Für Litauen ist es keine ungewohnte Situation: zwischen widerstrebenden Interessen verschiedener größerer Mächte. Nun in neuer Variante: Litauen als Eingangstor für Flüchtlinge, die aufwändig zu dieser ungewöhnlichen Route eingeladen werden.
Ungemütliche Nachbarschaft
Wie Lukashenko das anstellt, gibt zum Beispiel die NZZ wieder, indem litauische Quellen (LRT) zitiert werden: "irakische «Reisebüros» werben Menschen für eine Reise nach
Weissrussland an. Die «Touristen» müssen mehrere tausend
Dollar hinterlegen, die einkassiert werden, sollten sie nicht
zurückkehren. Hunderte Migranten gelangen so in die weissrussische
Hauptstadt Minsk, wo sie sich einige Tage in Hotels aufhalten, bevor es
in Minibussen an die litauische Grenze geht. Von da sind es nur noch
wenige Meter in die EU. Instruktionen, wo der Grenzzaun einfach zu
passieren sei, werden ihnen von den «Reiseleitern» mit auf den Weg
gegeben."
Hat also Diktator Lukaschenko das Nachbarland Litauen "in eine Falle gelockt", wie ebenfalls die NZZ schreibt? Der "Merkur", wo es noch "Belarus (ehemals: Weißrussland)" heißt,
schreibt sogar, Lukashenko habe "sich mit 80,1 Prozent der Stimmen vor
einem Jahr im Amt bestätigen lassen" - ja sind denn diese vom Diktator
diktierten Zahlen glaubhaft? (Merkur)
Aus deutscher Sicht gibt es wohl vor allem zwei Sichtweisen: die einen denken vor alllem an die vergeblichen Versuche der belarussischen Opposition, Lukashenko, der sich offenbar nur noch durch Wahlbetrug und massenhafte Gewaltwendung an der Macht halten kann, zu verdrängen. Die anderen meinen wohl, das Ziel von Flüchtlingen könne wohl nur Deutschland sein, und Litauen nur ein Trittstein auf dem Weg dahin.
Rückblick
Ist das zu kurz gedacht? Als 2015 Deutschland (und andere Länder) hauptsächlich mit Flüchtlingen aus Syrien zu tun hatte, zeigte sich Litauen zunächst bereit 40 Flüchtlinge aufzunehmen (Zusage Butkevicius / NZZ), dann gestand man 250, schließlich 325 zu (Standard). Die damalige Präsidentin Grybauskaite musste beruhigen: "Wir müssen uns nicht vor Menschen fürchten, die vor Krieg, Verfolgung und Hunger fliehen." Die EU in Brüssel forderte damals Litauen auf, 780 Flüchtlinge aufzunehmen (heise). Eine Verteilung nach festen Quoten lehnte Litauen ab.
Damals kam auch von deutscher Seite die Idee auf, EU-Länder bei Ablehnung von festen Flüchtlingsquoten mit der Kürzung von Finanzmitteln zu bestrafen (Sächsische). Auf litauischer (wie auch auf polnischer) Seite hätten manche auch gern "nur christliche" Familien aufgenommen. Schließlich lag die Zahl dann bei 1.105 Flüchtlingen, die Litauen aufzunehmen bereit war (Standard). Und der damalige litauische Innenminister Jankevicius reiste nach Griechenland und erklärte dort, Aufnahmewillige selbst aussuchen zu wollen - aber die griechischen Behörden hätten keinen einzigen Flüchtling identifizieren können, der nach Litauen wolle.
In der Folge reisten nun Journalisten nach Litauen, um aus Unterkünften für Asylbewerber/innen zu berichten (z.B. Pabrade). Und im November 2015 verabschiedete dann das litauische Parlament auch endlich mal ein Asylrechtsgesetz (LRT).
Ab Dezember 2015 übernahm dann Litauen einzelne Flüchtlinge aus Griechenland (Ntv / Euronews). Schon damals war gleichzeitig von einer Sicherung der Grenze zu Belarus die Rede. Ansonsten waren es eher Ukrainer/innen, Russ/innen oder Georgier/innen, die damals in Litauen Asylanträge stellten. Ein »Bund der litauischen Nationalisten« protestierte in Litauen gegen die Aufnahme muslimischer Flüchtlinge. (JungleWorld).
Im März 2016 kam dann die Meldung, auch eine Flüchtlingsroute über Litauen werde vom Grenzschutz für möglich gehalten - verbunden mit einer vermuteten Weiterreise Richtung Skandinavien. (Focus) Als Litauen dann Grenzschützer und Polizisten nach Griechenland schickte (NZZ), erregte der Fall von Abdul Basir Yousofy Aufsehen, ein Afghane, der von dort aus Litauen um Asyl bat - ein litauisch sprechender Flüchtling, denn er hatte in Afghanistan fürs litauische Militär als Übersetzer gearbeitet (Stern).
Während Journalist Tomas Čyvas sogar einen "neuen eisernen Vorhang" fordert, diesmal als Abschottung für Litauen (eurotopics), berichtet die russische Agentur Sputnik schon 2016, Litauen bereite sich nun auf die Abriegelung der Grenze zu Belarus vor.
Quoten, Anträge, Abschottung
"Diese Migrationskrise ist komplizierter als die Wirtschaftskrise", seufzte 2016 Präsidentin Grybauskaite im Interview mit dem Deutschlandfunk und gibt gleichzeitig zu Bedenken: "wir haben keine Erfahrung mit der Integration muslimischer Menschen." Im November 2016 wird gemeldet, dass 35 gemäß EU-Verteilungsplan nach Litauen geschickte Flüchtlinge das Land wieder verlassen hätten - aus Enttäuschung über ausbleibende Hilfe und Unterstützung (RP-online).
In dieser Zeit schreibt der deutsche Autor Nils Mohl vom "Land der Helden – Litauens ganz eigene Flüchtlingskrise" (Baden online). Von einem "Land der Helden" (Nationalhymne) ohne Willkommenskultur und fast ohne
Einrichtungen für Flüchtlinge, hingegen mit einem enormen Alkoholkonsum
und dem Europameistertitel in der Suizidrate. So Nils Mohl.
2017 wehrt sich der aus dem Iran stammende Journalist Sirus A. juristisch gegen seine Abschiebung nach Litauen und flüchtet sich ins Kirchenasyl in Rheiberg: "Ich habe Angst um mein Leben" (RP-online).
Schon zu dieser Zeit wies Litauen immer wieder auf die besondere Lage des Landes hin: einerseits die massenhafte Auswandung besonders junger Litauerinnen und Litauer in Richtung besser bezahlter Jobs in anderen EU-Ländern, und andererseits die Unterstützung für die demokratischen Bewegungen in den östlischen Nachbarländern wie der Ukraine und Belarus.
Keine Einigkeit unter Demokraten?
Aktuell besteht wohl die Gefahr, dass Litauens Haltung von deutscher Seite entweder nur sarkastisch bis ironisch betracht wird, oder aber offen ablehnend - denn "flüchtlingsfreundlich" war Litauen in den vergangenen Jahren nie, höchstens "EU-bündnistreu".
Mit der Willkommenskultur gehe es zu Ende, meint ein Leserbriefschreiber, dem der "Trierer Volksfreund" Platz zum exklkusiven Abdruck einräumt, und der gleichzeitig behauptet, 2015 sei "für eine Politik der offenen Grenzen" geworben worden. Nun ja, viele sind eben nur in der Lage, es aus der eigenen Perspektive zu sehen. Interesse für die litauische Perspektive? Hm, solange es schlagzeilenträchtig ist ...
Inzwischen hat Nachbarland Lettland den "Ausnahmezustand" erklärt; unter diesen Bestimmungen dürfen Sicherheitskräfte in bestimmten Fällen physische Gewalt anwenden, um Migranten zurückzudrängen. Grenzbeamte sind während des Ausnahmezustands außerdem nicht verpflichtet, Asylanträge von Migranten zu akzeptieren. (Tagesspiegel) Und "Euronews" schreibt ein bischen selbstverliebt: "Niemand hat die Absicht, einen Zaun zu errichten" - was hier die Gemeinsamkeit zwischen der Mauer, die Deutschland teilte, und der litauischen Grenzsicherung sein soll - hier wird wohl auf Kosten von Litauen gewitzelt. Wohl weil es gerade zum Jahrestag des Mauerbaus passte - das nennt sich verantwortungsvoller Journalismus. Jeder nach eigenen Maßstäben offenbar.