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14 November 2018

Zwischen Litauen und Litauen

Als Denkmal für Klein-Litauen und dessen Bewohner wollen die Autor/innen und Herausgeber/innen ein neues Buch verstanden wissen, das am 7. November in den Räumen der Botschaft Litauens in Berlin vorgestellt wurde. Denn die Legenden über die alten litauischen Fürsten wie Mindaugas, Gedeminas oder Algirdas sind das eine - das Gebiet des damaligen Großfürstentums Litauen erstreckte sich vor allem nach Osten, in Regionen des heutigen Weißrussland, Polens und der Ukraine. Dafür war zunächst die Burg Trakai ein Symbol, 1323 wurde Vilnius gegründet.

Dr. Vaclovas Bagdonavičius mit Silke Brohm
(Übersetzerin) bei der Vorstellung des Buches in Berlin
Das erste gedruckte litauische Buch, dazu eine Bibelübersetzung ins Litauische, und auch die erste Grammatik der litauischen Sprache - das alles entstand in dem Gebiet von der Memel im Norden, Goldapp im Süden, und von Labiau im Westen bis zur litauischen Grenze im Osten.

Das jetzt frisch erschienene Werk hat den Titel "Preußisch-Litauen: Ein enzyklopädisches Handbuch / Mažosios Lietuvos enciklopedinis žinynas". Geschrieben haben dieses Buch über 300 Autorinnen und Autoren - die heute über die ganze Welt verstreut leben, von Kanada über Norwegen, Deutschland, den USA, Russland bis nach Australien. Die Idee entstand bereits 1983, 1985 wurde die "Stiftung Klein-Litauen" gegründet. Zwischen 2000 und 2009 konnten das fertige Werk in seiner litauischen Fassung (in vier Bänden) erscheinen. Für diese Ausgabe zeichnete der Philosoph und Literaturwissenschaftler Vaclovas Bagdonavičius verantwortlich.

Dr. Christiane Schiller
Die Projektleitung zur Erstellung einer deutschen Ausgabe dieses Werkes hatte Frau Dr. Christiane Schiller, Lituanistin und Baltistin. Es waren viele Aufgaben zu vergeben: die große Themenvielfalt bedingt es, dass sich Übersetzerinnen und Übersetzer sehr anstrengen mussten, um sorgfältig überprüfte Lösungen anbieten zu können. Da kam sicher zu gute, dass Frau Dr. Schiller auch Litauisch lehrt, also einen Teil der Schülerinnen und Schüler ansprechen konnte.

Also ein "Denkmal für die Westbalten"? Oder eher "Ostpreußen aus der Sicht der Litauer"?
"Nicht einmal die reichen Deutschen, die so viele verschiedene Enzyklopädien herausgaben, haben bisher ein Nachschlagewerk zu dem über Jahrhunderte von ihnen beherrschten und bewohnten Altpreußen und Ostpreußen erstellt, wenn sie auch Tausende von Arbeiten darüber schrieben," schrieb der litauische Historiker Algirdas Matulevičius schon 2001 für die "Annaberger Annalen". Aus litauischer Sicht war es also ein tiefes Bedürfnis, die Definition zu Geschichte, Kultur und Gegenwart der im Fokus stehenden Region nicht nur der deutschen Seite zu überlassen.
Prof. Dr. Manfred Klein
Mit dem vorliegenden Buch - dessen genaues Studium angesichts der Informationsfülle sicher längere Zeit dauern wird - haben nun auch deutsche Leserinnen und Leser ein Werkzeug, um eigene Schablonen und Sichtweisen mal auf die Probe zu stellen.

Auch der Historiker Dr. Manfred Klein, schon durch sein Buch "Das alte Litauen - dörfliches Leben zwischen 1861 und 1914" (siehe Annaberger Annalen) bekannt, beteiligte sich an der anschließenden Diskussion. Auch er hatte sich erst kürzlich mit einem eigenen Buch zu "Preussens Litauern" zu Wort gemeldet, wo Sätze zu lesen sind wie dieser: "Man kann Studien über Minderheiten in Deutschland oder der preußischen Gesellschaft lesen, in denen Ostpreußens Litauer nicht einmal erwähnt werden” - das dies sich ändert, auch dazu ist das neue Nachschlagewerk sicher nützlich. Alle Anwesenden waren sich einig: alle Beteiligten an der deutschen Ausgabe dieser neuen Enzyklopädie gebührt großen Dank, denn ohne ihr Engagement und ihre Leidenschaft wäre die Arbeit und der Zeitaufwand an diesem Projekt kaum realisierbar gewesen.

Preußisch-Litauen: Ein enzyklopädisches Handbuch / Mažosios Lietuvos enciklopedinis žinynas

14 Mai 2018

Litauisch Oberhausen

Die diesjährigen 64.Kurzfilmtage Oberhausen haben mit der Vergabe des Großen Preises der Stadt Oberhausen einen Filmemacher aus Litauen geehrt: Deimantas Narkevičius.Ein Name, der in Deutschland wohl in Kunstkreisen und unter Kulturschaffenden - aber nicht so sehr in allgemeinen Öffentlichkeit bekannt ist.

Narkevičius, geboren 1964 in Utena, studierte zunächst Bildhauerei an der Kunstakademie Vilnius. 1992/93 verbrachte er ein Jahr in London. Nach seiner Rückkehr begann er Gespräche mit Künstler/innen aufzuzeichnen - das narrative Element hat er sich in seinen Filmen erhalten, wie etwa in "The role of Lifetime".
Heute gilt Narkevičius als einer der international bekanntesten und anerkanntesten Künstler Litauens. 2001 repräsentierte er sein Heimatland bei der Bienale von Venedig, und auch 2003 war er in Venedig präsent. Seine Ausstellungsprojekte erstrecken sich über die ganze Welt: über London, Paris oder Brüssel bis nach Melbourne.

In seinen Filmen versucht er stets ein Thema aus der Geschichte aufzugreifen. Hier scheut er auch nicht vor schwierigen Themen zurück, die in er litauischen Gesellschaft kontrovers diskutiert werden, wie zum Beispiel die jüdische Vergangenheit und der Holocaust in Vilnius, oder die Schwierigkeiten von Homosexuellen im Alltag.

In einem Interview bezeichnete er Ferneh-Dokumentationen der 70iger Jahre als bevorzugtes Arbeitsmaterial: "Die Interviews wurden damals meist mit 16mm-Kameras gemacht, dann wurden sie geschnitten und noch am selben Abend verwendet - es geschah also oft in ziemlicher Hektik. So musste zu einem gewissen Maß auch experimentiert werden. Diese Filme wurden durchgesehen und gesendet, sie schufen interessante Möglichkeiten um Film zu nutzen. Ich habe darüber erst sehr viel später nachgedacht." 
aus: "Manifesta 10" (Sad songs of war)

Eine andere Aussage von Narkevičius ist, dass seine Filme auch als "Ausweitung seiner Skulpturen" angesehen werden können. "Für Manifesta2 habe ich auch Filmmaterial benutzt", sagt er. "Und der Prozess, eine Skulptur zu schaffen, ist bei mir auch ähnlich wie das Arbeiten mit Film." So wundert es auch nicht, dass sowohl die Riesenbüste von Karl Marx im heutigen Chemnitz (zu DDR-Zeiten=Karl-Marx-Stadt) bei Narkevičius Thema sind, wie auch die ehemals ganz Litauen dominierenden Lenin-Skulpturen (heute versammelt im "Grūto Parkas" zu sehen), oder der Abbau der letzten Sowjetmonumente von der "Grünen Brücke" in Vilnius. Dabei kann Narkevičius mit diesen Statuen ganz anders umgehen, wie er es als Bildhauer könnte: "gewöhnlich sind diese Figuren ja nicht dafür geschaffen worden, damit sie in dem Moment betrachtet werden wie sie aufgestellt oder wieder abgebaut werden."

Hat Narkevičius Vorbilder? Beeindrucked habe ihn die Persönlichkeit von Werner Herzog: "Ich war beeindruckt von seiner Persönlichkeit", erzählt er. Auch sein Film "Revisiting Solaris" ist einem Filmmacher und einem Visionär gewidmet: Adrejs Tarkowski und Stanisław Lem, dazu werden Landschaftsmotive von Mikalojus Konstantinas Čiurlionis genutzt.
Inzwischen, nach all seinen internationalen Erfolgen, wird Deimantas Narkevičius wohl selbst schon zum Vorbild für viele jüngere Künster/innen geworden sein.

Interview mit Deimantas Narkevičius   / Forum der Berlinale 2012

Deimantas Narkevicius - The Role of a Lifetime    / The arrow of time

Deimantas Narkevicius in Münster     / Head (Der Kopf)

Baltic Bites   / Kurzfilmtage Oberhausen  /  Lo Schermo Dell’Arte Film Festival (Interview)

Into the Unknown   /   Manifesta 10    / Ausgeträumt

12 Februar 2018

Singen zum Hundertsten

Eigentlich haben ja die Nachbarn Estland und Lettland die längere Tradition: ein "Liederfest", von vielen auch "Sängerfest" genannt - litauisch "Dainų šventė" - gibt es in Estland seit 1869, Lettland seit 1872. Die Geschichte der litauischen Liederfeste (Dainų šventė) beginnt 1924 - seitdem fand es 17mal statt. Hier steht das Hundertjährige also noch bevor.

2003 wurde das Liederfest gemeinsam mit den anderen baltischen Liederfesten (Estland und Lettland) von der UNESCO als Meisterwerk des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit anerkannt und 2008 in die Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen.

Wenn am 1. Juli 2018 das diesjährige litauische "Dainų šventė" eröffnet wird, dann soll, gemäß Programm, auch speziell auf die geschichtliche Entwicklung eingegangen werden. Nicht nur auf die 1918 erfolgreich erneuerte Selbstständigkeit Litauens, sondern die Litauer/innen definieren ihr Traditionen, mehr als die estnischen oder lettischen Nachbarn, international verwurzelt. Also ist auf dieser litauischen Geschichtstafel manches bunte zu finden:
- das Erste Eidgenössische Sängerfest in Zürich / Schweiz des Jahres 1843, das mit 80 Chören und 2100 Sänger/innen als der erste der Welt gilt;
- ein Sängerfest in Würzburg im Jahr 1845, eine Tradition die selbst in Deutschland eher unbekannt ist (hier soll unter anderem die Landeshymne Schleswig-Holsteins zum ersten Mal erklungen sein);
- das erste "baltische" Sängerfest in Tartu (Dorpat) 1869, Die Litauer nennen auch vier litauische Komponisten, deren Lieder während der estnischen Sängerfeste der ersten Estnischen Unabhängigkeit dort aufgeführt wurden: Domas Andrulis, Eduardas Balsys, A. Andriulis und Zigmas Venckus;
- das erste lettische Sängerfest 1873, aber besonders das Lettische Sängerfest 1931, an dem auch 100 Gäste aus Litauen teilnahmen;
- 1895 als das Jahr, in dem der erste litauische Chor, und auch die erste litauische Sängervereinigung gegründet wurden;
- der Komponist Stasys Šimkus soll dann 1909 zum ersten Mal mehrere Chöre eingeladen haben zu einer gemeinsamen Aufführung. Die Idee zur Schaffung eines litauischen Sängerfestes scheiterte damals noch am Ausbruch des 1.Weltkriegs.
- 1924 war dann der Boden bereitet für die ersten "Tage des Liedes".

Interessant nachzulesen sind auch die Aktivitäten der sowjetlitauischen Zeit. Ob 1946 wirklich fröhlich gefeiert werden konnte ist unklar - wo doch manche noch hofften, Litauen könnte sich wieder vom sowjetischen Zugriff befreien, und viele andere waren nach Westen geflohen. Aber 1946 gab es erstmals einen Wettbewerb der Chöre untereinander, seitdem ist so ein Chörewettstreit schon traditionell. Mit dem Liederfest 1950 spielte sich ein vorübergehender Fünfjahres-Rhythmus der Liederfeste ein. Ab 1955 wurde mit “Skambėk, daina” ("Klinge, Lied") auch eine eigene Zeitschrift zum Festival herausgegeben - insgesamt erschienen 47 Ausgaben. Die 1960 fertiggestellte Liederfestbühne im VingisPark erstellten estnische Architekten - der Ort wurde später auch Bühne für so manche Kundgebungen zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit. Seit dem Jahr 2000 ist die Organisation der litauischen Liederfeste durch Regierungsentscheidung abgesichert - seit 2007 sogar mit einem speziell geschaffenen Gesetz.

Etwa 37.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden im Juli 2018 wieder zum Liederfest erwartet. 

26 September 2017

Verkostung Ost

Schmeckt Osteuropa anders? - Unter den Lebensmittelkonzernen hat wohl Pepsi Cola die längste Geschichte einer speziellen Geschmacksorientierung in Osteuropa: als infolge einer Übereinkunft zwischen Nikita Chruschtschow und Richard Nixon (1959) dem Pepsi Konzern erlaubt wurde den bräunlich-süßlichen Drink auch in der Sowjetunion zu verkaufen, war es rein ökonomisch ein Erfolg (im Austausch mit importiertem Wodka). Pepsi exportierte allerdings nur anfangs - später, ab 1974, wurde der begehrte Stoff in der Sowjetunion selbst hergestellt. Von nun an wurde Pepsi von den betroffenen Konsumenten als "sowjetisches Produkt" eingestuft - das konnte wohl kaum genauso gut schmecken wie im Westen. Auflösung gab es erst 1989 mit dem Fall des "eisernen Vorhangs": nun wurde der Markt in den Ex-Sowjetstaaten für Pepsi sogar zu einem ökonomischen Standbein, während in vielen anderen Ländern der Welt längst Coca-Cola der Marktführer war.

ein historisches Foto: Chruschtschow probiert
erstmals eine Cola (Quelle: ceuweekly)
Wir lernen: es ist nicht nur wichtig, wie es schmeckt, sondern auch wie die Erwartung davon ist, wie es wahrscheinlich schmecken wird. Auch Pepsi war keine reine Erfolgsgeschichte: vieles in Osteuropa sei schwer einzukalkulieren und wenig vorhersehbar. Weiterhin wurden die damaligen osteuropäischen Konsumenten als wenig markentreu eingeschätzt: natürlich trug man gern "Adidas", "Puma" oder "Nike", als die Bezugsquellen dafür noch nahezu unerreichbar (oder unbezahlbar) erschienen. Gleichzeitig jedoch wechselt man gern zu preisgünstigen Konkurrenzprodukten - oder trinkt in der Krise eben auch einfach Leitungswasser (so die Marktanalytiker). Zusammen mit Pepsi kamen später auch Ketten wie "Kentucky Fried Chicken" oder "Pizza Hut".

Wieviel davon gilt heute auch für Litauen? Versuchen wir also mal genauer hinzuhören, wenn der litauische Landwirtschaftsminister Bronius Markauskas Bedenken äußert; kürzlich hatte er die staatliche litauische Lebensmittelbehörde beauftragt, 33 Produkte identischer Marken aus Deutschland und Litauen genauer zu testen. Angeblich seien bei 23 davon deutliche Unterschiede in der Zusammensetzung, aber auch in Geschmack, Farbe oder Konsistenz festgestellt worden. "Ein in der EU bekanntes Produkt sollte doch auch gleiche Qualität haben, egal ob in Lissabon, München oder Vilnius gekauft," so Markauskas. Wird hier ein alter Vorwurf gegen die EU-Bürokratie umgedreht? Gern sei an dieser Stelle der "Krümmungsgrad der Gurken" zitiert, den die EU ja angeblich mal vorgeschrieben hat. Völlig identische Einheitsprodukte in ganz Europa? Ist das wirklich wünschenswert?

In litauischen Medien sind Streitpunkte am häufigsten bei folgenden Produktgruppen genannt: Joghurt, Käse, Gebäck, Schokolade, Limonaden, Kaffee, Waschpulver. Genauere Zahlen lässt auch die Pressemitteilung der litauischen Kontrollbehörde leider offen. Als Grund für die Untersuchung gibt Darius Remeika, Chef der litauischen Lebensmittelüberwachung an, "8 von 10 litauischen Konsumenten" hätten behauptet von manchen Produkten "diskriminiert" zu werden. Allerdings habe man schnell festgestellt, dass in fast allen Fällen die Firmen "rein rechtlich" alles richtig gemacht hätten - also seien genauere Untersuchungen nötig gewesen.

Und, was wurde nun festgestellt? Konkret benannt wurden nur vier Beispiele, alle recht vage: Schokolade, die nicht 35% Kakao (wie eine der gleichen Marke in Deutschland), sondern nur 32% habe, Joghurt mit (in Deutschland) höherem Fruchtanteil, Nuß-Nougat-Creme mit ebenfalls höherem Kakaoanteil, und Sonnenblumenöl, das für Kartoffelchips benutzt wurde und in Litauen durch billiges (und umstrittenes) Palmöl ersetzt wurde.

Was das Palmöl angeht, so würde ich ja gern mal mit einem Litauer zusammen durch einen deutschen Supermarkt gehen und versuchen Produkte ohne Palmfett zu finden; kann es also sein, dass - wie schon in der Zeit kurz vor dem EU-Beitritt - die Unternehmen Litauen als "Testmarkt" nutzen? Wenn also Palmöl wirklich Geld spart, wird es dann wohl auch bald in Deutschland verwendet werden, anstatt dass Sonnenblumenöl zurückkehren wird.

Nun beschweren sich allerdings nicht nur die Litauer über angeblich schlechtere Produktqualität westlicher Marken, sondern auch Gäste in Litauen - nur auf ganz andere Art und Weise. "Ich kenne Pizza Hut. Der Fehler ist nur, sie versuchen hier, die Pizza auf litauische Art zu machen," schreibt ein Kunde auf "Travelblog" unter der Überschrift "Das schlechteste Essen in ganz Litauen." "Sie servieren es mit sehr wenig Tomatensauce, oder sogar mit verschiedenen Saucen zum selbst nachwürzen, sehr trockener Teig, und auch der Salat ist nur der Farbe nach vielfältig." Wenn schon Standardqualität, dann auch für ausländische Spezialitäten in Litauen? - Gespannt warte ich dann auf einen litauischen Prüfbericht, ob die Cepelinai in ganz Europa dieselbe Qualität aufweisen ...

24 Juli 2016

Borisas wird's schon richten

Einige Europäer reagierten geschockt, als die neue britische Regierungschefin Theresa May ausgerechnet den bisherigen Wortführer der "Brexit"-Kampagne Boris Johnson zum Außenminister machte. Gut im Gedächtnis sind nicht nur seine populistischen Sprüche gegen die EU, sondern auch Aussagen über andere Politikerinnen und Politiker; so sagte er über Hillary Clinton schon mal, sie sehe aus wie eine "sadistische Krankenschwester in der Psychiatrie", US-Präsident Obama war für ihn ein "Halb-Kenianer", und sogar vor der Queen scheute er nicht zurück, indem er behauptete, sie möge ja die ehemaligen Kolonien deshalb so gern, weil sie dort bei ihren Staatsbesuchen regelmäßig "eine jubelnde Menge fähnchenschwingender Negerlein" zur Begrüßungerwarten könne. - Genüßlich notieren nun Journalisten Johnsons' Verhalten auf der ungewohnten diplomatischen Bühne, z.B. beim Zusammentreffen mit US-Amtskollege John Kerry (NZZ). Vom "Stolpern auf der Weltbühne" oder "Diplomatie-Stümper" (ZEIT) ist da die Rede - manche sehen den früheren Polterer auch schon in "eine Art offenem Strafvollzug" (Stern).

In Litauen ist das anders. Die Litauer schauten sich auch die Vergangenheit von Alexander Boris de Pfeffel Johnson (so der volle Name) an, und suchen nach Gemeinsamkeiten. Und, obwohl es bereits bekannt war, dass es einen türkischen Urgroßvater namens Ali Kemal gab - damals Innenminister des Osmanischen Reiches - suchten die Litauer weiter und fanden einen weiteren Urgroßvater: einen Litauer. 
rot eingefärbt: Länder, die Boris Johnson schon vor
seinem Amtsantritt als Außenminister beleidigt
haben soll - Litauen ist nicht dabei (Quelle:"Bigthink.com)
Die Recherche wurde hauptsächlich von der Zeitung "Lietuvos Rytas" betrieben. "Es gab einen Elias Avery Loew, geboren am 15. Oktober 1879 in Kalvarija, damals zum russischen Zarenreich gehörig", schreibt die Zeitung.
"Später änderte er seinen Namen in 'Low', und er war der Vater von Johnson's Großmutter. Die Eltern von Elias Low waren Juden und beide in Litauen geboren, die Familie wanderte aber später in die USA aus." Unter seinen Nachkommen ist auch die britische Künsterlin Charlotte Johnson Wahl - die Mutter des neuen Chefdiplomaten Boris.

Eventuelle Bezüge zum deutschen Fußball-Bundestrainer werden an dieser Stelle (leider) nicht aufgedeckt (Elias Avery Loew starb 1969 in Bad Nauheim, wie schon Wikipedia weiss). Beim Antrittsbesuch von Boris Johnson (Borisas Jonsonas?) in Vilnius lud der litauische Außenminister Linkevičius seinen britischen Amtskollegen zu einem Besuch des Wohnortes seiner Vorfahren ein - worauf dieser angeblich "very amused" reagierte.

Sollte Johnson Kalvarija besuchen, heute ein kleiner Ort nahe der litauisch-polnischen Grenze, wird er nach Spuren des Lebens, so wie es im 19.Jahrhundert war, ziemlich suchen müssen: der Ort wurde schon im 1.Weltkrieg stark in Mitleidenschaft gezogen und verlor viele seiner Einwohner. Im 2.Weltkrieg wurde vor allem die jüdische Bevölkerung verfolgt und ermordet (siehe auch "Holocaustatlas.lt") - Borisas würde wohl sagen: es war wohl besser, dass meine Vorfahren schon vorher ausgewandert sind.

23 Dezember 2015

Kaunas Bilanzen

Eine interessante Jahresbilanz für die Stadt Kaunas, Litauens zweitgrößte Stadt, zieht Daiva Repečkaitė für den "Lithuania Tribune" (siehe auch Delfi.lt). In Kaunas habe sich einiges geändert im Laufe des Jahres 2015: erneuerte Brücken, umgestaltete Fußgängerbereiche, bessere Straßen - und alles unter einem neu gewählten Stadtparlament. Nur die Mitbestimmung der Bürgerinnen und Bürger sei etwas auf der Strecke geblieben.

Visvaldas Matijošaitis, Unternehmer und einer der reichsten Männer Litauens, machte sein Geld vor allem mit Fischkonserven, Surimi-Fischbrei, und französischen Autos (Vičiūnai-Gruppe). Zu Sowjetzeiten noch im Militär Seit 2011 war er Mitglied im Stadtrat, seit einigen Monaten ist er Bürgermeister von Kaunas. "Bleib ruhig und stimm für Matijošaitis", so der Slogan der Wahlkampagne seiner Wahlliste "Vieningas Kaunas" ("Vereinigtes Kaunas"), einer Wirtschafts-nahen Vereinigung.

Während einige in Kaunas schon davon träumen, im Jahr 2022 "Europäische Kulturhauptstadt" werden zu können - ein Titel, den Vilnius 2009 trug - liegen die größten Probleme immer noch in der fehlenden Wirtschaftskraft und Abwanderung junger Leute - sowohl nach Vilnius, wie vor allem in andere europäische Länder wie Irland, Großbritannien oder auch Deutschland. Litauische Jugendliche müssen vor allem eine Chance auf einen Arbeitsplatz bekommen, damit sie "nicht ihre Heimatstadt verlassen, sondern ihr Leben gestalten und das Leben in ihrer Stadt mit gestalten“ - so bekamen es auch schon Besucherdelegationen aus Deutschland von Bürgermeister Matijošaitis zu hören (lippe-news).

Kritiker, wie Journalistin Repečkaitė hingegen, weisen eher auf den verschwenderischen Lebensstil des Ferrari-Fahrers Matijošaitis hin, der sich auch wohl kaum von den wirtschaftlichen Interessen der ihm gehörenden Firmen distanzieren könne, als kaum als neutral angesehen werden könne; so wie im Fall des alten Hotels "Respublikos" in Kaunas, das jahrelang als unfertige Ruine dastand und die Vičiūnai-Gruppe dann als möglicher Käufer auftrat. Andererseits: der zentrale Busbahnhof der Stadt zog vorübergehend an das Shoppingcenter "Akropolis" um, während der alte Platz umgebaut wird. Und Erleichterungen auch für kleine Unternehmer kündigte die Stadt - ganz modern - Neuerungen per Twitter unter dem Hashtag "#permainos_Kaune" an.

Kaunas wünscht, jede Bürgerin und jeder Bürger mögen
glücklich sein mit und in ihrer Stadt
Auch zu anderen Themen gibt es unklare Tendenzen: einerseits will die Stadt Teil der Altstadt Kaunas, mit Schwerpunkt auf die Architektur der Zwischenkriegszeit, auf die Liste des UNESCO Welterbes setzen lassen (15min); andererseits tue die Stadt nichts dagegen, dass gerade in diesem Bereich einige Hauseigentümer ihre Gebäude völlig verfallen lassen. - Während einige Universitäten in Vilnius, Kaunas, Šiauliai und Klaipėda ihre Kräfte zusammentun und Institute zusammenlegen, gab es in Kanaus Ärger um eine von der Polizei gewaltsam beendete Studentenaktion am 1.September, zu Beginn des neuen Schuljahres. Die Studierenden hatten ein "Glückrad" aufgestellt, und wer sich daran versuchte, konnte allerdings auch bei "Niedriglohnjobs", "Emigration ins Ausland" oder anderen schlechten Zukunftsprognosen landen. Obwohl selbst der Uni-Rektor sich für die Aktivisten einsetzte, wurde einer der Organisatoren sogar vor Gericht schuldig gesprochen, da er gemäß litauischen Gesetzen bereits vorher alle anzumeldenden öffentlichen Aktivitäten genau hätte beschreiben müssen.

Dann gab es eine Initiative von einigen Geschäftsleuten, den Fußgängerbereich der Laisves Allee teilweise für Autos zu öffnen - offenbar um wohlhabendere Kunden anlocken zu wollen. Die Bürger protestierten, aber es ist immer noch nicht sicher, dass die Stadt nicht doch Ähnliches plant. Beim Straßenbau wiederum änderte sich zwar einiges zum Besseren, aber ohne eine Förderung des Fahrradverkehrs - anders als in Vilnius, wo ein öffentliches Fahrrad-Verleihsystem relativ erfolgreich ist.
Die im November eröffnete neue Panemunė-Brücke lobten die Politiker wegen ihrer schnellen Fertigstellung - zur Deckung der 30 Millonen Euro Baukosten musste die Stadt neue Kredite aufnehmen. Von einer anderen, der Aleksotas-Brücke, wurden die alten Sowjetsymbole entfernt und die Brücke in "Vytautas-der-Große-Brücke" umbenannt. Auch durch die Inbetriebnahme der Rail-Baltica Eisenbahnlinie steht Kaunas noch Änderungen bei der Verkehrsentwicklung bevor.

Auch Sportfans können mit dem Sportjahr in Kaunas einigermaßen zufrieden sein: Žalgiris Kaunas wurde erneut litauischer Basketballmeister und in der Euroleague landete man vorerst unter den besten 16 Mannschaften. 
Ein neu gegründetes Filmbüro versucht, Kaunas als Kulisse für Filmproduktionen anzubieten, und ist froh, dass sowohl eine Neuverfilmung von "Anna Karenina" (Christian Duguay) wie auch ein Mercedes-Imagefilm ("die Geschiche der Silberpfeile") dies schon realisiert haben.

Um zu Daiva Repečkaitė zurückzukehren: eigentlich steht es gar nicht schlecht um Kaunas, lautet ihre Bilanz; einzig ob die Einwohner der Stadt wirklich bei der kommenden Entwicklung mitbestimmen können, das muss vorerst noch offen bleiben.

30 September 2015

Palast mit Vergangenheit

Der Sportpalast in Vilnius ist heute eine eher einsame Stätte: das "Žalgirio stadionas", 1950 zunächst mit Fußballsplatz, Aschenbahn und Westtribüne eröffnet, später mit Ringtribünen aus Stahlbeton weiter ausgebaut, heute als Überrest vermeindlich heroischer Sowjetzeit leerstehend. Es grüßen noch zwei schöne, mit Reliefs geschmückte Eingangstore. Zu Zeiten des Baus mit 18.000 Zuschauern das größte von damals drei Stadien in Vilnius, 1955 noch durch ein Hallenbad ergänzt - das allerdings bereits 2004 abgerissen wurde.
In unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich der von Eduardas Chlomauskas projektierte Sportpalast, dem wegen des üppig zur Schau gestellten Baumaterial (béton brut) das Stichwort "Brutalismus" zugeordnet wird.
Zuletzt einige Jahre ungenutzt: der inzwischen unter
Denkmalschutz gestellte Ex-Sportpalast in Vilnius
Angeblich sei der Entwurf nur vom Sportpalast in Minsk kopiert worden, meinen Architekturkritiker, andere wiederum meinen auch Parallelen in Westeuropa zu erkennen. 6.000 Gäste sollten im Inneren Platz finden, und zu Sowjetzeiten gab es ein Restaurant, zu dem nur hochrangige Parteimitglieder Zutritt hatten.
Auch der zweite Kongress der "Sajudis" tagte einmal hier. Im Januar 1991, nachdem die sowjetischen Sondereinheiten der "Schwarzen Barette" versucht hatte die Volksfront-Regierung zu stürzen, waren einige Tage die Toten der Ereignisse rund um den Fernsehturm im Sportpalast aufgebahrt.

Einen etwas anderen Blick auf den Sportpalast gewinnen diejenigen, die sich auch für die jüdische Vergangenheit von Vilnius interessieren. Da ist - neben den reichhaltigen Beiträgen jüdischer Kulturschaffender zum unabhängigen Litauen, der sowjetischen Besetzung wie der durch die Nazis, und dem darauf folgenden Holocaust - auch die Nachkriegszeit interessant. Die sowjetischen Behörden taten wenig bis nichts, um die jüdische Gemeinde zu fördern. Der Historiker Götz Aly schrieb dazu in einem Beitrag für die Berliner Zeitung: "Von den 60.000 Juden Wilnas tauchten nach dem Rückzug der Wehrmacht im Sommer 1944 einige Hundert wieder auf. Sie eröffneten eine Volksschule, ein Museum und feierten von 1944 bis 1946 ihre Gottesdienste in der stark beschädigten, etwas hergerichteten und reparablen Großen Synagoge."
Das schwer beschädigte Gebäude der Große Synagoge wurde dann abgerissen, den berühmten Friedhof im Stadtteil Šnipiškes ebnete man ein - genau, um Platz zu schaffen für den Bau des Sportpalastes.

So bleibt auch noch ein Stückchen Diskussion um die zukünftige Nutzung des Gebäudes. 2009 wehte Vilnius dann ganz offiziell die Dynamik dieser Diskussion ins Gesicht: nicht nur, dass die Litauer gerade in diesem Jahr von der weltweiten Wirtschaftskrise überrascht wurden und viele gute Projektideen unrealisiert blieben, sondern auch die Überbeibsel unvollständig oder gar nicht aufgearbeiteter jüdischer Geschichte der Stadt flogen den Organisatoren damals ins Gesicht (siehe Zeitungsbeiträge wie WELT, Süddeutsche Zeitung,

Gegenwärtig bemüht sich der litauische Ministerpräsident Algirdas Butkevičius in Gesprächen mit Vertretern der jüdischen Gemeinde Vilnius eine gemeinsame Basis zu finden für die Zukunft. Denn abgerissen werden wird der Sportpalast zwar nicht, aber Butkevičius hatte das Versprechen abgegeben, künftige Projekte an diesem Ort nur dann zu realisieren, wenn die jüdische Gemeinde zustimmt. Auch mit seinem Amtskollegen in Isreal, hatte der litauische Regierungschef das Vorhaben erörtert.
Nun soll das Gebäude also als Ort für Konferenzen und Kongresse modernisiert werden. Ein neues Zugeständnis ist nun, dass in der Halle keine Konzerte stattfinden sollen. Ein kleines, eher symbolhaftes Zugeständnis in Erinnerung an diesen Ort.
Geplant ist der Kauf des Geländes durch die staatliche "Turto Bankas", die 5,6 Millionen Euro dafür bereit stellt. Ein Teil des Geländes war bisher im Besitz der inzwischen bankrotten "Ūkio Bankas Investicinė Grupė", ein anderer wird von der "Žalgirio Sporto Arena" angekauft.
Butkevičius äußerte die Hoffnung, das neue Konferenzzentrum im Jahr 2018 fertiggestellt zu sehen, pünktlich zum 100.Jubiläum der wieder hergestellten litauischen Unabhängigkeit.

24 Juli 2015

Grüne Brücke, grüne Lücke ...

Widersprüchliche Nachrichten gibt es um die "Grüne Brücke" in Vilnius: einer der letzten Orte in der litauischen Hauptstadt, an der noch Zeugnisse der Sowjetzeit zu besichtigen waren. Nach den Zerstörungen des 2.Weltkriegs wurde die Brücke 1952 gebaut, also ein Produkt der Stalinzeit. Seit einigen Tagen wird es an dieser Stelle wohl zukünftig wesentlich unsensationeller zugehen.

Für die meisten Litauer standen die in heroischer Pose errichteten Skulpturen an den Uferseiten für Okkupation, Unterdrückung und die falschen Versprechungen des Sowjetsozialismus. So wurden die Figuren auch schon oft Opfer von Vandalismus, häufig von Farbbeutelanschlägen. Allerdings stehen die vier unterschiedlichen Ensembles inzwischen auch unter Denkmalschutz. Wer kennt Bernardas Bučas, Petras Vaivada, oder Neopoleonas Petrulis? Oder vielleicht Bronius Vyšniauskas, Juozas Mikenas, oder Juozas Kedainis? Das waren die Bildhauer, die Erschaffer der Figuren, damals alles bekannte Künstler. Den "Optimismus der sowjetischen Zukunft" sollten die Figuren darstellen, jede der vier eine andere Gruppe der Gesellschaft darstellend: Bauern, Industrie, Wissenschaft und - natürlich - Soldaten.

Seit Ende der Sowjetunion, seit Wiedererlangung der Unabhängigkeit Litauens wird schon diskutiert, was mit den Figuren geschehen soll. Schon das Projekt "Grūtas Parkas" wurde ja auf der Basis alter Sowjet-Skulpturen geschaffen. Kurzzeitig hatten Künstler Installationen oder kurzfristige Umgestaltungen gewagt, dazu zählt auch das "Love Banks"-Projekt von Gitenis Umbrasas, der die Worte "Ich liebe dich", und "Ich dich auch" an den beiden Ufern der Brücke anbrachte. Von Umbrasas stammt auch der "Stebuklas"-Stein nahe der Kathedrale. 2013 wurde eine Plakette angebracht, die auf den Abzug der Sowjettruppen aus Litauen hinweist.

Die Veränderungen begannen zu Wochenanfang: Nun sind die Figuren also verschwunden, wurden am 20./21.Juli abgebaut und weggebracht. Endgültig? Vorläufig? Nach 63 Jahren sind die Bronzeskulpturen ganz sicher ausbesserungsbedürftig. Die Reaktionen decken ein breites Spektrum ab: "Götzen endlich raus aus Vilnius" (Lietuvos Rytas) tönen die einen, andere äussern Besorgnis, man stelle sich mit der Zerstörung von Denkmälern auf eine Stufe mit den Terroristen des Islamischen Staats (IS).

Regimius Šimašius, seit wenigen Wochen Bürgermeister von Vilnius und mit seinem Wahlspruch "Vilnius gali geriau" ("Vilnius kann besser sein") bekannt, empfängt nun auf seiner Facebook-Seite Glückwünsche für die von ihm veranlassste Aktion. "Viele haben ja gesagt, ohne die Figuren wird die Brücke langweilig und trist sein," meint er. "Ich habe es mir jetzt mal angesehen, und ich muss sagen: ganz nett! Wir werden die Brücke aber bald noch mit Blumen verschönern," versucht er Kritiker der Aktion zu begegnen.

Frühere Berichte in der Presse, denen zufolge die Skulpturen "keinesfalls" entfernt werden sollen (siehe Lithuanian Tribune) waren also vielleicht nur Teil einer Strategie zur Beruhigung der Diskussionen. Vor einigen Monaten gab es sowohl Demonstrationen für den Erhalt der Skulpturen, als auch für ihre Beseitigung. Und selbst wenn es noch Überlegungen geben sollte, die Figuren doch zu restaurieren - der frühere Bürgermeister Artūras Zuokas hatte 2013 schon einmal Geld dafür bereitgestellt - werden zwei Fragen im Raum stehen: erstens, soll dieses Geld wirklich für die Erneuerung von Sowjetsymbolen verwendet werden - die neue Mehrheit im Stadtrat wird sich wohl dagegen aussprechen. Zweitens, wird es einen neuen Platz geben für die Figuren? Angeblich habe die städtische Kulturkommission ihre Einwilligung nur für eine Restaurierung gegeben - aber erst im Herbst ist der nächste Sitzungstermin, um über ein weiteres Verfahren zu entscheiden.

Die betroffenen Künstler jedenfalls werden sich selbst nicht mehr wehren können. Erst kürzlich starb der letzte von ihnen, Bronius Vyšniauskas, im Alter von 92 Jahren.


12 Oktober 2011

Čiurlionis erobert Bremen - für einen Tag

Wer Litauen kennt, der wird auch von der großen Hochachtung erfahren haben, die Leben und Werk von Mikolajus Konstantinas Čiurlionis (geb. 1875, gest. 1911) entgegengebracht wird. Er war sowohl Komponist wie Maler, und steht ebenso wie Czesław Miłosz für Menschen, die aufgrund mehrfach geänderter politischer Verhältnisse sich zwischen einzelnen Volksgruppen, Sprachen und Staaten bewegten. 
Einzelheiten dazu werden selten in Deutschland dargeboten - das momentan auf Usedom stattfindende Musikfestival ist da eine löbliche Ausnahme. Für Bremen stellt der Rahmen des Projekts "KunstMachtOsteuropa" die Möglichkeit dar, dass sich mehrere Institutionen und Vereine zusammentun konnten, um Zusammenhänge und Unterschiede polnisch-litauischer Kultur- und Geistesgeschichte einmal ausführlicher fürs interessierte allgemeine Publikum anbieten zu können. 
Die Koordination des Projekts lag bei der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, einer Einrichtung, für die zumindest die Beschäftigung mit den baltischen Staaten einen seltener Ausnahmefall darstellt. 

Für diesen einen Tag aber - den 9.Oktober 2011 - erschien Bremen fast als eine Hochburg der Čiurlionis-Fans: zu einem Vortrag am Nachmittag erschienen 50, und zum Konzert von Rokas Zubovas aus Litauen, einem Urenkel des Komponisten Čiurlionis, fanden sich noch einmal 70 interessierte Zuhörer ein. 
Noch bis Ende November wird in den Räumen der Stadtwaage, wo gleichzeitig sich das Medienarchiv der Günther-Grass-Stiftung Bremen befindet, eine Ausstellung über Leben und Werk von Čiurlionis und Miłosz gezeigt. Der Eintritt ist frei. 

Als vorläufiges Resumee kann vielleicht gesagt werden, dass aufgrund der nun entstandenen Kontakte zwischen verschiedenen Institutionen es hoffentlich auch in Zukunft noch einmal möglich sein wird, wichtige Themen des litauischen Kulturlebens in Bremen zu präsentieren und gleichzeitig wissenschaftlich aufzuarbeiten. 
Vermisst wurde lediglich der Verweis auf einen anderen international bekannten Bremer Künstler: Nikolaus Lahusen. Zubovas sagte einmal dem Goethe-Institut in Vilnius über seinen Pianisten-Kollegen Lahusen folgendes: "Das für mich wohl bedeutendste gemeinsame Projekt war der Besuch des deutschen Pianisten Nikolaus Lahusen in Litauen im Februar 2005. Er gab drei Konzerte und traf sich mit dem Publikum in Plungė, Kaunas und Vilnius. Nikolaus Lahusen hatte zu dem Zeitpunkt Klavierwerke von M. K. Čiurlionis auf eine dritte CD eingespielt. Die Platte wurde präsentiert, es wurde über Zukunftspläne gesprochen. Leider war es die letzte Reise dieses Pianisten, der ein großer Freund Litauens und der Musik von Čiurlionis war: Im Mai desselben Jahres ist der Pianist plötzlich gestorben. Die mit Hilfe des Goethe-Instituts veranstaltete Reise von Nikolaus Lahusen war somit ein Treffen, das seinen Schaffensweg symbolisch zusammengefasst hatte." In Bremen blieb dies leider unerwähnt - wie so manches, was Bremerinnen und Bremer im Zusammenhang mit Litauen tun. Aber wie gesagt: es besteht die Hoffnung, dass sich das in Zukunft ändert.