13 August 2019

Gedächtnis zum dreißigsten

An große Momente der Geschichte erinnert man sich auch in Litauen gerne. Dabei war der Anlass alles andere als hoffnungstrunken: am 23. August 1989 versammelten sich die Menschen in Litauen, Lettland und Estland, um dem Jahrestag der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes zu gedenken. Eine Aktion, deren Realisierung absolut unsicher war: schon oft waren Protestaktionen durch Polizei und Miliz verhindert worden, an bestimmten symbolreichen Orten war ein Versammlungsverbot absehbar. Aber an diesem Tag ließ sich niemand stoppen: es war die machtvolle und erstmals in diesem Ausmaß öffentlich sichtbare Vereinigung der Unabhängigkeitsbewegungen der drei baltischen Staaten, der lettischen "Tautas Fronte", der estnischen "Rahvarinne" und der litauischen "Sajudis".

Insgesamt sollen es um die 2 Millionen Menschen gewesen sein, die von Vilnius über Riga bis nach Tallinn eine 600 km lange Menschenkette bildeten. In Litauen sollen nun, 30 Jahre später, 10.000 Menschen erneut zusammenkommen. Aber Ignas Brazauskas, offenbar einer der verantwortlichen Organisatoren des Events, will mehr: "Vor 30 Jahren waren es eine halbe Million Litauer und Litauerinnen, die sich beteiligten," meint er, "diesmal können wir wohl knapp 10.000 erreichen. Aber wenn wir es alle fünf Jahre wiederholen, es wäre schön es 2039 zum fünftzigsten Jubiläum nochmals ganz groß zu machen!" (Baltic Times)

"Baltijos Kelią" - der "Baltische Weg" - als ständig wiederholte Erinnerung an einen kurzen Moment des Zusammenhalts, der machtvollen Aktionen? Die Initiative "Baltic Way 30" hat die Idee des "Händchen-haltens" auch schon in andere Länder exportiert: direkt vor das Capitol in Washington, USA. Nachglühen im Biergarten inklusive.
In Brüssel plant es das litauische Außenministerium mehrere Nummern kleiner: ganze 600 Meter, offenbar die Strecke zwischen den Botschaften der drei Länder Litauen, Lettland und Estland, soll die Solidaritätskette lang werden. Und um ganz sicher zu gehen dass es nicht zu aufwändig wird, soll es auch nicht am 23. August passieren - sondern am 22.September, in Brüssel ein autofreier Sonntag.

Das alles zeigt, dass Regierungen doch wohl Ereignisse nicht nachstellen können, die von den Menschen selbst aus einem aktuellen Bedürfnis geschaffen wurden - ohne Rücksicht auf mögliche berufliche Nachteile, zuviel nervöse und ärgerliche Autofahrer auf den Straßen, oder gar Hoffnung auf Unterstützung der zuständigen Behörden. Vielleicht ist da ein anderes Projekt viel treffender: es wird eine Oldtimerrallye (senovinės technikos žygis) geben, von FanClubs historischer Fahrzeuge gemeinsam organisiert.Auf diese Art und Weise werde man auch Fahrzeuge auf die Straße bringen so wie sie 1939 in Gebrauch waren, schreiben die Organisatoren. Zwischen dem 18. und 20. August soll die Strecke von Vilnius über Riga nach Tallinn zurückgelegt werden.

Da ist es doch fast schade, dass es auch zu dieser Veranstaltung ein Konkurrenzprojekt gibt: "Baltijos Kelias", aber mit schnöden Gegenwartsautos, ausgewählt und dekoriert von der litauischen Staatskanzlei und der Stadt Vilnius. Gestartet wird am 23. August in Vilnius und auch in Tallinn, mit Zwischenstop in Riga, direkt übertragen auf dem Portal "delfi". Wer wird angesichts dieser künstlich produzierten Autosschlangen noch der Opfer des Hitler-Stalin-Paktes gedenken? Es erinnert doch eher an lärmende Hochzeitsfeiern, die dekoriert und wahrscheinlich laut hupend durch die Stadt (hier: durch viele Städte) fahren sollen. Nicht zu vergessen: alles üppig mit Nationalflaggen dekoriert. Und nicht nur das: wer sich hier für einen Newsletter anmeldet, stimmt gleichzeitig der Nutzung seiner Daten durch den "Jeep Club Lithuania" zu Marktingzwecken zu. Da steigt doch die Begeisterung! Also, gehen wir mal davon aus: eine Aktion zur Klimarettung wird dieses Event schon mal nicht werden.

Niemand wird wohl diejenigen zählen, die am 23. August 1989 irgendwo auf der Strecke zwischen Vilnius, Riga und Tallinn standen, einfach Spaß hatten an der Aktion, und sich erfreuten dass Nachbarn, Freunde und Familienangehörige auch dabei waren. Soweit ich weiß, hatte damals nicht einmal irgend jemand an der Strecke Schaschliki verkauft, oder "ledai ant pagaliuko" angeboten. Heute ist jeder froh, nicht 600 km täglich auf der Suche nach angemessen bezahlter Arbeit fahren zu müssen - mit oder ohne Jeep. Also werden wir am 23.August wohl eher zu Hause sitzen, möglichst mit guten Freunden und Freundinnen zusammen, und ein Gläschen vom Getränk unserer Wahl zu uns nehmen - und uns an die mutigen Menschen des Jahres 1989 still erinnern.