22 Mai 2013

Show mit Nachwirkungen

Ist es nun ein Skandal, oder nicht? Die Strukturen der Diskussion über den "Eurovision Song Contest" (ESC) sind ja immer ähnlich - wer hinten landet, schimpft auf "Manipulation" bei anderen Ländern. Bloße Sympathien für Nachbarländer gelten offenbar als genauso anrüchig wie für andere die angeblich übermächtige Kommerzialisierung der Kultur, oder für die Dritten dann wieder die angebliche Benachteiligung kleinerer Länder - je nach Perspektive. Manche -. wie dieses Jahr Mazedonien - beschweren sich auch über die Präsenz von Lesben und Schwulen beim ESC (siehe Bericht QUEER). Aber wie steht es damit, wenn Menschen in anderen Teilnehmerländern Geld dafür angeboten wird, möglichst oft und mit möglichst vielen Handys für ein bestimmtes Lied abzustimmen? Ist das schon Manipulation - oder ist es sogar Steigerung des Aufmerksamkeits-Effekts für den ESC bei denen, für die es sonst ziemlich egal wäre wer gewinnt? In der Presse kursieren nun mehrere Varianten des angeblichen "Stimmenkaufs".

Litauen - Russland - Aserbeidschan: osteuropäisches "Bermuda-Dreieck"?
von Hackern vorläufig "stillgelegt" ...
Stimmenkauf beim ESC anderen vorzuwerfen - offenbar
ein vielfach heiß diskutiertes Thema.
Was wurde also in dieser Woche vom litauischen Portal "15min" wirklich aufgedeckt? Um es noch mal klarzustellen: es geht NICHT um eine Bestechung einer Jury, oder um die Verfälschung einer telefonischen Abstimmung. Es geht allerdings sehr wohl um die Verfestigung verschiedener Vorurteile - je nach Perspektive. Wenn also hierzulande die FAZ  dieses Thema entdeckt, dann muss man wohl die Leserreaktionen wie diese gleich mitlesen: "Ich fordere: Aserbaidschan schnell in die EU! - ...denn die Mentalität passt so schön zu der unserer 'guten Europäer' in Brüssel." Ein Schuß EU-Bashing kann offenbar nicht schaden, findet immer Anhänger. Besonders wo manche sogar schon davon reden, dass beim ESC nicht über den deutschen Beitrag von Cascada, sondern eigentlich über Angela Merkel's Deutschland abgestimmt hätten. Da fällt mir doch eine Reaktion aus Lettland ein, die zwar schon einmal gewonnen haben, 2013 aber zum fünften Mal hintereinander das Halbfinale nicht überstanden. "Für kleine Länder stimmt eben niemand!" war von dort auf einem Internetportal zu lesen. Wie man sieht, sind im Elfenbeinturm mehrere Zimmerchen frei ...

Show und Politik
Aber wer glaubt, so ein "Trällerwettbewerb" sei nicht wichtig genug, der kann diese Woche noch mehrere Varianten dieser "Stimmenkauf-Story" in der Presse nachlesen. Je nach Land mit unterschiedlichen Vorzeichen. Ein anderes litauisches Internetportal, delfi.lt, schrieb über eine zweite Möglichkeit auf ähnliche Weise Geld zu verdienen: nur das diesmal nicht für Aserbeidschan sondern zu Gunsten Russlands gestimmt werden sollte. Hinzugefügt werden muss vielleicht noch der ungewöhnliche Umstand, dass es diesmal keine Punkte für Russland aus Aserbeidschan gab. Resultat: Ein Sturm der Entrüstung, und Drohbriefe an DELFI.LT (dokumentiert auf der lettischen Partnerplattform DELFI.LV). Die Anklündigung: man werde dieses "Massen-Desinformationsmittel" stilllegen. Resultat: die Drohungen wurden realisiert, vorerst ist DELFI.LT nicht erreichbar. Man habe sich an die litauische Polizei gewandt, erzählt Kristijonas Šauļis als Vertreter von Delfi.lt den lettischen Kollegen. Die Schuldigen werden nun gesucht.

Und mit einer weiteren Variante zum Thema "Stimmenkauf" wartet nun auch "Spiegel online" auf: hier geht es um Vorwürfe Russlands an Aserbeidschan. Dort sei der russische Beitrag der Sängerin Dina Garipova angeblich bei der SMS-Abstimmung auf Platz 2 gelandet. Das hätte zwar nicht automatisch 10 Punkte bedeutet (wie Spiegel schreibt), sondern 50% der Abstimmung wurden auch hier Stimmen einer Jury gewertet. Aber dass Russland auf dem afghanischen Billboard gar keine Punkte bekam, das veranlasste angeblich sogar den russischen Außenminister Lawrov bei Gesprächen mit seinem afghanischen Kollegen das Thema anzusprechen (siehe auch WELT). Lawrow ging aber nicht soweit zu behaupten, die volle Punktzahl von 12 für den aserbeidschanischen Beitrag sei ebenfalls eine "technische Panne" gewesen. Was solls - oder müssen wir nun - analog dem Sport - nun auch beim Gesang ein "Sängergericht" einführen?
Laut russischer Nachrichtenagentur NOVOSTI hat Lawrov bei seinem Kollegen bereits eine "Bestrafung der Schuldigen" durchgesetzt - obwohl die EBU an der Korrektheit des Votings festhält (siehe EBU-Stellungnahme).
Immerhin verleitet der Vorgang auch die deutsche Ausgabe des "Wallstreet-Journal" zu einem Kommentar, die die Abstimmungsfakten ganz beiseite läßt: "Offen bleibt dabei, ob es sich bei dem “Zwischenfall” tatsächlich um verlorene oder unterschlagene Stimmen handelt – oder ob der eigentliche Skandal darin besteht, dass sich die Aserbaidschaner in Sache Musik eine eigene, politisch unkorrekte Meinung anmaßen."
Da lohnt sich auch mal bei NDR-Kommentator Jan Feddersen nachzulesen. Er weist auf die Möglichkeit hin nur das Jurywertung zu werten: nämlich dann, wenn nicht genug Anrufe eingehen. 

Stimmenkauf, multikulturelle Sympathien, oder doch nur PR?
Erstaunlich, erstaunlich, diese ESC-Nachwirkungen. Vorläufig scheint es nicht nur einen Wettbewerb um die ESC-Sieger, sondern auch um die beste Geschichte rund um angeblichen Stimmenkauf zu geben. Bei "VIP.DE"führt es schon dazu, dass beide Quellen (die litauische und die russische) vermengt und verdreht wiedergegeben werden.
Nächste Variante: die "Deutsch-Türkischen Nachrichten" berichtete bereits vor dem Finale vom angeblichen Angebot des diesjährigen ESC-Zweiten Farid Mammadov im nächsten Jahr für die Türkei antreten zu wollen. Kommentar des Portals dazu: "Wer hierbei glaubt, Mammadov gehe auf Punktefang, liegt jedoch falsch. Denn die Türkei ist beim diesjährigen ESC nicht vertreten. Aufgrund des 'Punktezuschiebens' mehrerer Länder erklärte das türkische Staatsfernehen TRT, 2013 nicht teilnehmen zu wollen." - Ach, nun plötzlich Aserbeidschan als Garant einer multkulturellen Perspektive? Oder doch eine andere Erklärung dafür, dass Mammadov auch in Ländern viele Stimmen bekam wo viele Türken wohnen? (siehe auch "Eurasisches Magazin").
Auschnitt aus dem auf "15min"publizierten Video:
Kompromittierendes - oder Inszeniertes?
Eine eigene Meinung hat auch die "Rheinische Post" und schreibt (ohne Quellen zu nennen) von früheren Vorwürfen gegen Aserbeidschan, schon frühere Abstimmungen "über PR-Agenturen" manipuliert zu haben. Nun ist PR ja an sich schon ihrer Bestimmung nach möglicht manipulativ - aber ebenfalls legal.

"Wer soll das bezahlen?" titelte der "KURIER" aus dem ebenfalls früh ausgeschiedenen Österreich - und meinte damit allerdings die Sorgen der Ausrichter des nächsten Jahres, Dänemark. Bei den Antwortmöglichkeiten auf diese Frage sind der Phantasie offenbar keine Grenzen gesetzt. Derselbe KURIER meinte übrigens zu wissen, warum gerade Österreich 12 Punkte an Afghanistan vergab, und konstatierte beim kultigen deutschen Moderator Peter Urban, der darüber Unverständnis äußerte, "verwirrte Sinne".

Übrigens: Sowohl der estnische Beitrag wie auch Andrius Pojavis überstanden nur knapp das Halbfinale - die Estin als 10., Pojavis knapp davor. Im Finale erhielt der litauische Beitrag selbst aus Irland, dem Arbeitsplatz vieler Litauer, nur einen Punkt (aus Aserbeidschan 3, aus Weißrussland 5). Italien, das eigentliche neue Heimatland von Pojavis, spendierte ganze 6 Punkte. Also: zumindest in Italien hat der ESC für positives litauisches Aufsehen gesorgt.

Und für das erst vor einigen Monaten neu gestartete Nachrichtenportal "15min" (das, wie die FAZ richtig bemerkt, zum norwegischen Medienkonzern Schibsted gehört), war es auf jeden Fall ein PR-Erfolg: der Bericht erzeugt gegenwärtig in vielen Ländern Europas Aufsehen (Italien, Schweden, Dänemark, Belgien, Serbien, Spanien, Norwegen, Ungarn - und sicher noch einige mehr) - wobei viele daran zu verzweifeln scheinen weder Litauisch noch Russisch zu verstehen. Nur die Medien in Aserbeidschan selbst sind sich völlig sicher: "Litauisches Video ist eine Fälschung." (News.az)
Mal sehen, wer das nächste Kapitel schreibt.

mehr dazu:
Wortprotokoll bei 15min.lt: So versuchten sie unsere Stimmen zu kaufen ...

Beitrag DELFI.LV zu den Hackern bei DELFI.LT / Beitrag Spiegel online /

Stellungnahme der EBU zum "Bestechungsvideo" aus Litauen /

09 Mai 2013

Der deutsche Blick auf Grybauskaitė

Kurz mal ein Resumee des Tages: es gibt sicher Litauerinnen und Litauer, die keine Anhänger ihrer Präsidentin Dalia Grybauskaitė sind - aber die Litauer in Deutschland werden sicher genauer als üblich hingesehen haben.
Es gibt selten Tage, an denen im Rahmen einer offiziellen Feierstunde Politiker aus Litauen in Deutschland geehrt werden - Vytautas Landsbergis, vor 25 Jahren im Fokus heute vielzitierter Ereignisse, wird sicher ein ganz klein wenig neidisch gewesen sein.
Aber am Ende dieses Tages, nachdem sich am Mittag noch alle Festredner redlich bemüht hatten, auch die litauischen Namen korrekt auszusprechen (und es abends im ZDF schon wieder nach "Grippkaußkeite" klang) werden Litauen-Freunde sehr schnell merken, dass die Litauen-Aufmerksamkeit nur einen Tag dauerte - mit Ausnahme vielleicht von Aachen, wo etwa 40 Veranstaltungen rund um die Preisverleihung stattgefunden haben.
Was bleibt am Ende dieses Tages von all den Festreden?

Eisen, Bernstein oder Karate?
"Die europäische Hochprominenz macht sich diesmal rar" schrieben die "Aachener Nachrichten" in einem Vorbericht. Das weist schon darauf hin, dass die Leistungen oder ehrenvollen Verdienste der Preisträger nicht der einzige Faktor und Ziel der Karlspreis-Veranstaltung sind. Aachen bemüht sich Jahr um Jahr, an einem Tag im Jahr wenigestens im deutschsprachigen Teil der Welt so etwas wie Europa-Treffpunkt zu sein. Ein Treffpunkt allerdings nur für Eingeladene: nicht zufällig zeigten die Fernsehkameras die winkende Preisträgerin und die Laudatoren auf dem Rathausbalkon, aber nicht das Volk davor. Die Absperrungen waren ziemlich weiträumig, und es gibt durchaus Fotos auch von den Rahmenveranstaltungen vorher, auf denen zu vermuten ist dass die Aachener Veranstalter sich um eine möglichst bunte Mischung an Angeboten bemühten - es ging nicht darum Litauen kennenzulernen.

Frau Präsidentin zu Besuch in der Stadt,
die in Deutschland zumindest im Alphabet
immer ganz vorn steht
(Foto: 15min.lt)
Ja, ich wage sogar leicht anzuzweifeln, ob alle diejenigen, die als Autoren der Lobreden auf Dalia Grybauskaite verantwortlich zeichneten, sie auch wirklich meinten. Laudator Martin Schulz beispielsweise setzte sich nach seiner Rede derart demonstrativ mit schnell übereinandergeschlagenen Beinen auf seinen Platz mit dem Rücken zu Grybauskaite, dass diese einige Mühe hatte ihm ihren formellen Dank per Handschlag zu versichern.
Manches klang vielleicht eher wie ein Wettstreit an Plattitüden: ob nun eher eine "Bernstein-Lady" gemeint war, oder die "Eiserne Lady des Baltikums", oder aber die "Karate-Lady" - diese drei Varianten klingen genauso hilflos wie die Bezeichnung "Oskar der Politik" für den Karlspreis, die von des Deutschen unkundigen Journalisten der "Baltic Times" erfunden worden sein soll.

Ach damals!?
Aber suchen wir mal die Fakten zusammen. Was können wir aus den zweifellos zahlreichen Pressebeiträgen über Litauen oder die Präsidentin lernen, die wir lesen, hören und sehen durften? Vieles wirkte wie eine nachgeholte Geschichtsstunde - als es noch um größere Schlagzeilen ging als brav zurückgezahlten Weltbankkredite.
"Grybauskaite gab ihr Parteibuch erst ab, nachdem die Unabhängigkeit besiegelt war", merkt Tim Krohn für die ARD an. Immerhin wird Grybauskaite's Doktortitel nicht angezweifelt - obwohl sie diesen im sowjetischen Studiensystem erwarb, noch zu Zeiten vor Gorbaschow. Aber nachdem jemand im demokratischen Litauen Finanzministerin und in Europa Haushaltskommissarin war gehört sich das wohl nicht - zumal einige der Europa-Strategen Frau Dalia gern nach Ablauf ihrer Präsidentenamtszeit in ein Spitzenamt nach Brüssel zurückloben würden.

Andere Klippen wurden heute absichtlich umschifft. Einen Satz mit "In einem Land, wo xy passiert und xx gemacht wird" zu beginnen ist ein beliebter Sport für Leserbriefschreiber und Politagitatoren aller Art. Aber wenn die ARD auch darauf hinweist, Grybauskaite sei, da unverheiratet und kinderlos, auch schon mal als "lesbisch" beschimpft worden, dann wird aus diesem Anlaß nicht die schwierige Lage von Schwulen und Lesben in Litauen diskutiert - was auch nie Grybauskaites Thema war.
Schwieriger macht es sich da schon Aachens OB Marcel Phillip, der - obwohl noch Anfang März zu Besuch in Litauen weilte - heute von der "schöpferische Kraft der Peripherie" in Bezug auf Litauen zu reden wagte (die Mitte Europas in Litauen hat er demnach nicht besucht).

Wer oder was ist eigentlich Litauen? 
Nein, von einer litauischen Perspektive war nicht sehr viel die Rede heute. Schon gar nicht von Michael Schulz, der mit seiner kräftigen Stimme eine Spur zu deutlich schon im Wahlkampfmodus war und mehrfach SPD-Themen für das ausgab, was er angeblich von Grybauskaite gelernt haben will. Mehrfach erwähnte er Jugendarbeitslosigkeit fast im gleichen Atemzug mit der Feststellung dass in Litauen "die Krise" ja bereits vorbei sei. Nun, es saßen die Preisträger des sogenannten "Jugend-Karlspreises" mit in der ersten Reihe, und bei deren Festveranstaltung Tage zuvor, und bezogen auf ganz Europa, hätte das Thema ja auch Sinn gemacht.

Litauische Einsprengsel beim Europa-Feiern in
Aachen - außerhalb der Feierlichkeiten
offenbar nicht immer für alle ein Anziehungspunkt
(Foto: Aachener Nachrichten)
Bezogen auf Litauen aber muss Schulz wohl entgegnet werden: zwar leiden die jungen Litauerinnen und Litauer darunter, dass sie mit ihrer guten Ausbildung, mit ihrem Engagement und ihrer Einsatzbereitschaft keinen adäquat bezahlten guten Job im eigenen Land finden und in großer Zahl ins Ausland gehen (schon zum Studium). Aber die Jugend hat das Leben noch vor sich und kann vielleicht nach ein paar Jahren, an Erfahrung reicher, nach Litauen zurückkehren. Schlimmer sind wohl die älteren Generationen dran: wer in Litauen nicht gerade Präsidentin ist und die Ausbildung noch zu sowjetischen Zeiten machte, hat arbeitssuchend bei den politisch herbeigesehnten Investoren aus dem Ausland kaum eine Chance. Und was die Alten angeht zitiere ich eine Schlagzeile aus der litauischen Presse von heute: "10.000 litauische Rentner müssen mit nur 5 Euro pro Tag überleben" (15min.lt). Durchschnittlich sind es 236 Euro, aber vielen bliebt nur etwa 100 Euro zum Leben, nach Abzug der laufenden Kosten. Und Frauen sind dabei noch viel schlechter gestellt als Männer.

Die Rentner - ja, die Politrentner schickte Deutschland vor 20 Jahren noch wohin? Ja, genau, nach Europa! Ausgediente Landespolitiker, von denen man wohl meinte,sie von den Parteilisten "wegloben" zu können. Interessant dass Schulz gerade heute darauf hinwies, dass in den baltischen Staaten die Karrieren umgekehrt verlaufen: zuerst ins Europaparlament, dann zurück als Regierungschef (Ansip in Estland, Dombrovskis in Lettland). Wie Schulz wohl seine eigene persönliche Leistung einschätzt? Grybauskaite drückte es unverblümt aus: "Ich bedanke mich für die freundlichen Worte von Herrn Schulz, denn das Parlament zählt für uns." Tja, Herr Parlament - nun wissen Sie auch mal, warum Sie hier eingeladen sind. Nachdem Sie schon die Themen Steuerbetrug, Bürokratieabbau, die EU-Ostseestrategie, und die östliche Partnerschaft erwähnt haben - alles Themen die Grybauskaite höchstwahrscheinlich teilt - und eine europäische Wirtschaftsregierung gefordert haben - was in Europa noch heiß diskutiert wird - blieb Grybauskaite eher die angesichts der Ehrung und des Augenblicks dankbare Zurückhaltung. Immhin hatte Schulz die Litauer kurz zuvor "zu zwei Dritteln pro-europäisch" bezeichnet (und sich dabei wohl auf die Volksabstimmung vor 10 Jahren bezogen, anders wäre es nicht mit Zahlen zu belegen gewesen). Und Schulz hatte Litauen auch während des Weltkriegs "von Nazideutschland besetzt" bezeichnet, und die Ermordung der Juden freundlicherweise ebenfalls ganz diesen Nazi-Deutschen zugeschrieben.

Trotz diesen Freundlichkeiten klang das "Frau Grybauskaite, wir vermissen Sie" nicht wie eine Liebeserklärung - eher wie ein Hilferuf angesichts der sonst als eher undurchschaubar oder gar korrupt empfundenen Strukturen der litauischen Exekutive wie Legislative. Doch Litauen wollte ja und sollte auch an diesem Tag (Finanz-)Vorbild sein gegenüber Rest-Europa (das übrigens niemand auch nur mit einem einzigen Wort erwähnte - Bezüge zu einem der nicht so "braven" EU-Länder meine ich). Also verboten sich allzu hässliche Theman von selbst. 

Kein Gauck im Saal
Ein Joachim Gauck hätte sicher auch gut hineingepasst in diese Veranstaltung. Ob sein Kalender frühzeitig anderweitig verplant war, ob er nicht eingeladen war, oder ob Aachens OB Phillip sich Versatzstücke seiner Reden ausgeliehen hatte - wir wissen es nicht. Sätze wie "in Litauen ist der Sinn für die Freiheit präsenter" oder "die Strahlkraft Litauens ist auf der Sehnsucht nach Freiheit basierend" (beides O-Ton Phillip) hätten auch von Gauck gesagt werden können. Aber sie klingen doch etwas zu sehr nach Vergangenheit. Ob man mit dem Beitritt zum Euro nicht wieder ein Stück Freiheit aufgibt - das wäre ein Beitrag zu einer aktuelleren Diskussion gewesen. Und auch Grybauskaite hatte offenbar nicht vor durch allzu gewagte philosophische Statements den europäischen Gedanken neu zu beleben - zu wichtig war ihr die Feststellung, dass sie den Preis und die Ehre auch stellvertretend für die Bürgerinnen und Bürger ihres Landes annimmt. Vielleicht war dies allein schon gewagt genug - wo die verschiedenen Gastgeber doch viel lieber von "Führungspersönlichkeiten" sprachen die angeblich einzig die Rettung Europas sein können.

Nein, es war auch vor 25 Jahren schon nicht die "Führungspersönlichkeit" Gorbatschow, der Litauen Freiheit, Unabhängigkeit und Demokratie brachte. Es musste gegen Gorbatschow erkämpft werden, und Litauen setzt sich heute noch für eine Strafverfolgung derer ein, die 1991 bei den blutigen Einsätzen der Sondereinheiten Verantwortung trugen - mit durchaus mäßiger Unterstützung der EU.
Ich bin gespannt auf die nächste Preisverleihung - vielleicht eher eine, wo das Establishment sich nicht nur selbst feiert. Also vielleicht eine in Litauen - wo dem geehrten europäischen Gast dann mal klar gesagt wird: hör mal, dieses und jenes von euch hat uns echt genervt, und diesese andere hat uns gefreut. Vielleicht gibt es ja mal einen solchen Anlaß, wenn Deutschland etwas dafür tun muss dass es Litauen gut geht. Bei der Aufhebung der Beschränkungen auf dem Arbeitsmarkt war Deutschland schon mal kein Vorreiter - aber es gibt ja noch genug anderes zu tun in Europa.