03 Dezember 2013

Es gipfelt

Litauen hatte sich sehr viel Mühe gegeben. Für das halbe Jahr ihrer EU-Präsidentschaft sollte vor allem die „Östliche Partnerschaft“ Schwerpunkt werden, Thema des EU-Gipfeltreffens vom vergangenen Wochenende. Aber Europa geht nicht mit "Heldenschritten" voran, das wissen wohl die meisten, die mit den entscheidenden Fragen an verantwortlicher Stelle befasst sind. Die heroischen Zeiten, aus deutscher Sicht der Fall der Mauer, aus litauischer Sicht der Kampf um die Unabhängigkeit, sie sind lange vorbei.

Vielleicht stehen über den gegenwärtigen Zeitungsberichten auch die falschen Überschriften. Gut, der ukrainische Präsident Janukowitsch hat das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterschrieben. Die litauische Präsidenschaft hätte es sich sicher gewünscht, hier im Umfeld des eigenen Landes mehr Europa-Freunde zu gewinnen, mehr Verlässlichkeit und weniger auf der ewigen Klippe des "entweder-oder" entlang spazieren zu müssen. Aber manchmal hilft sich bewußt zu machen, wie es hätte auch (anders) kommen können.

Der Litauen-Freund hat es ja nicht immer leicht. Nun sind wir also zunächst damit zufrieden, dass es Litauen es geschafft hat eine "ganz normale" EU-Präsidentschaft abzuliefern. Aus Brüsseler und deutscher Perspektive war es gut "angewärmt" durch die Karlspreis-Verleihung an Präsidentin Grybauskaite. Die litauischen Partner ehren, bevor sie gebraucht werden - es sieht aus wie die richtige Reihenfolge. Manche Litauer hatten es ja so gesehen: Baltischer Weg, Wiedererlangung der Unabhängigkeit, Beitritt zur EU und NATO - und nun die Präsidentschaft. Das Ende des langen Wegs zurück nach Europa.

Ganz abgesehen von den fehlenden großen Erfolgen des Gipfelwochenendes ist es doch erstmal begrüßenswert, dass Litauen so ein halbes Jahr unauffällig, aber professionell abwickelt. Begleitet mit einem verstärkten Kulturprogramm in Deutschland waren litauische Zusammenhänge oft im Blickpunkt in diesen Monaten. Es hat schon wankelmütigere (litauische) Präsidentschaftsperioden gegeben - mir fällt da zum Beispiel die litauische Präsidentschaft im Ostseerat ein, wo Sätze fielen wie "ach wissen Sie, es gibt so viele verschiedene Kooperationen" (siehe NGO-Blog). Prioritäten, Ziele, Standards des Umgangs miteinander? Damals noch unbekannt.
Auch das Kulturhauptstadtjahr 2009 hatte Litauen nicht sehr viel Positives gebracht, und das nicht nur wegen der ausbrechenden Wirtschaftskrise. Gegenwärtig steht Litauen dagegen erstmal in der gewünschten guten Position: mit gutem Kontakt sowohl zur Brüsseler EU-Zentrale, wie auch in die östlichen EU-Nachbarschaftsländer.

Ob die übrigen EU-Länder auch bezüglich Litauen dazu gelernt haben, bleibt vorerst unentschieden. Immerhin klingt der Name "Vilnius" etwas selbstverständlicher als Bezeichnung einer "normalen europäischen Hauptstadt". Auch die litauische Präsidentin kennen in Deutschland inzwischen schon einige - auch wenn viele dieser Geschichten eher von Mythen und Legenden ausgehen als von tatsächlichen Machtverhältnissen.

Wie es in der Ukraine weitergeht werden die Menschen dort entscheiden müssen. Schon seit der "Orangenen Revolution" war klar geworden, dass dieses Land ziemlich zwischen Ost und West zerrissen ist, und selbst wer in Kiew dominiert hat Donezk noch nicht für sich gewonnen. Der amtierende Präsident Janukowitsch ist durch eine zumindest halbwegs reguläre Wahl an die Macht gekommen, nachdem sich die Oppositionsparteien heillos zerstritten hatten und mit gegenseitigen Vorwürfen überschütteten. Auch bezüglich der Ex-Ministerpräsidentin Timoschenko behauptet ja gegenwärtig keiner der Politiker aus dem Westen, die sich für sie einsetzen, sie sei ungerechtfertigt verurteilt worden - nein, man möchte ihr nur einen Krankenhausaufenthalt an einem besseren Ort ermöglichen und so auch etwas Pulver aus dem Faß nehmen.

Fast vergessen ist der Einfuhrboykott Russlands für einige Lebensmittel aus Litauen.Er kam - wie man das von Russland gewohnt ist - unvorhergesehen und unbegründet: "Stop" heißt auf Russisch eben genau "Stop". Auch in diesem Punkt blieb Litauen sachlich, verlangte den Nachweis der angeblichen verringerten Lebensmittelqualität, aber verzichteten darauf eine breitere Anti-Russland-Front aufzubauen, die allerdings wegen der westlichen Interessen in und an der Ukraine diesmal sowieso vorhanden zu sein scheint. Über Gründe dieser russischen Sperren ist aus neutraler Quelle wenig zu lesen; folgt man einem Bericht bei "Schweizerbauer" dann scheinen die Lieferungen von Lebensmitteln nach Russland vielfach noch auf das Prinzip "haben wir immer schon so gemacht, machen wir wieder so" zu bauen.

Gar nicht aufgetaucht im Bewußtsein der europäischen Öffentlichkeit während der litauischen EU-Präsidentschaft: die Atomkraftfrage. Zwar tauchten kurzfristig in der litauischen Presse Schlagzeilen auf, Regierungschef Butkevičius wolle eine neue Volksabstimmung ansetzen, um den Neubau eines AKW doch noch durchzusetzen. (15min). Solche Aussagen lassen sich jedoch auch anders interpretieren: WENN ihr denn unbedingt ein AKW durchsetzen wollt, DANN müsst ihr MINDESTENS eine neue Volksabstimmung ansetzen, ausreichend Beteiligte haben, und dabei die Mehrheit gewinnen.
Den litauischen Atomfreunden hat sicherlich der kürzliche Rücktritt des lettischen Ministerpräsidenten Dombrovskis ebenfalls einen Strich durch die Rechnung gemacht. In Zeitungskommentaren ist zu lesen, bis zum regulären Termin der Parlamentswahlen im Herbst 2014 sei nun keine starke lettische Regierung mehr zu erwarten. "Stark" in diesem Sinne, dass ein "Ja" zu einer lettischen Beteiligung an der Finanzierung eines (teuren) neuen Atomkraftwerks auch notfalls ohne Volksbefragung in Lettland durchgesetzt wird. Das wird also vorerst auch nicht passieren, Litauen, magst ruhig sein. 

09 November 2013

Gestresste Reiseleiter

Schock für die kommende Touristensaison: die Reiseleiter in Litauen streiken! Nun, ganz so weit ist es noch nicht, aber zumindest beschweren sie sich lautstark. Für deutsche Verhältnisse erstaunlich allein schon, dass litauische Reiseleiter und Stadtführer in einer eigenen Gewerkschaftgruppierung zusammengeschlossen sind: Mitglieder von "Solidarität" (Solidarumas) demonstrierten Mitte Oktober sogar vor dem Präsidentenpalast in Vilnius. "In Litauen wird von Reiseleitern verlangt, dass sie einen Universitätsabschluß vorweisen können, dann spezielle Kurse besuchen müssen, einen Test in litauischer Geschichte ablegen und dann auch noch ihre Tourenleiter-Fähigkeiten testen lassen müssen," so erzählt es Gewerkschaftsvertreter Ričardas Garuolis. "In keinem anderen EU-Land gibt es so viele Einzelbestimmungen für Reiseleiter."

Touristenströme in Litauen - wer profitiert?
Auf der anderen Seite ist es offenbar möglich - die EU-Bestimmungen zur Freiheit von Dienstleistungen bringen es mit sich - dass ausländische Reiseleiter sich nur kurz mit den litauischen Behörden verständigen müssen und dann einfach als "vorübergehend zugelassener" Reiseleiter auch in Litauen arbeiten können. Dagegen haben nach Darstellung der Gewerkschaft bereits 4000 Litauerinnen und Litauer die speziellen Kurse für Reiseleiter absolviert - aber nur 600 von ihnen haben bisher auch die Zulassung bekommen. "Auf diese Weise werden viele litauische Reiseleiter ersetzt durch Polen, Deutsche oder Letten. Besonders bei den polnischsprachigen Kollegen sind die Zahl der verloren gegangenen Arbeitsmöglichkeiten hoch."

Getrübt werden diese klaren Aussagen, die vielleicht auch Nicht-Litauern ja Verständnis für litauische Reiseleiter entlocken können, vielleicht durch die Zusatzinformation, dass derselbe Herr Garuolis, der hier so eifrig Partei für die Unterschätzten und Benachteiligten ergreift, gleichzeitig auch aktives Mitglied im "Lietuvių tautininkų sąjunga" (Bund der litauischen Nationalisten) ist. Das bedeutet also - deren Parteiprogramm ernst genommen - er ist kein ausgeprochen eifriger Freund der Demokratie, sondern bevorzugt den "Volkswillen" und starke Führer. "Litauische (Reise)Führer für Litauen?"

Bei Gründung seiner Tourguide-Gruppierung innerhalb der "Solidarumas" im Jahr 2010 benannte Garuolis auch Ziele: bessere Arbeitsbedingungen und eine stärkere Position bei Verhandlungen um das Preisniveau für touristische Dienstleistungen. Bessere soziale Absicherung durch die auftraggebenden Agenturen. Der Stundenlohn für litauische Guides wurde damals mit 120-150 Litas (35-45Euro) benannt.

45 Euro pro Stunde? Damit - wenn man es als wenig bezeichnet - können ja nur Stadtführer gemeint sein; weniger die Tourguides, die tage- und wochenlang unterwegs sind (und froh sind wenn sie 100 Euro pro Tag bekommen). Zudem gibt es ja gerade bei deutschen Firmen die Gewohnheit, einen eigenen "Firmen"-Reiseleiter nach Litauen mitzuschicken, dem dann nur noch ein "örtlicher" Reiseleiter zur Seite gestellt wird. Während dann der deutsche "Kollege" eher die Hotelbetten und die gehobenen Restaurants "testet", darf der "örtliche" Partner sich um die organisatorischen Schwierigkeiten und den (landes-)sprachlichen Kontakt zu den "Einheimischen" kümmern. Nicht aber darum, ob es den deutschen Kunden gut geht - denn schließlich hat der Firmenreiseleiter schon vielfache Reisen des gleichen Typs hinter sich und glaubt zu wissen, was die (Stamm-)kunden wünschen (oder die Firmenleitung?), während litauische Kollegen nur "zugekauft" und kurzfiristig agieren. Solchen Erfahrungen zufolge müssten eigentlich deutsche und litauische Reiseleiter in DERSELBEN Gewerkschaft aktiv sein, bevor Abhilfe in Sicht sein könnte.

Ein anderer Punkt sind noch die Sprachkenntnisse. Muss ein deutscher Reiseleiter oder Guide, der sich in Litauen registrieren lassen möchte, eigentlich Litauisch beherrschen? Das wäre zu befürworten. Genauso ist es aber wünschenswert, dass in Litauen nicht einfach beliebige Arbeitslose "auf Reiseleiter" umgeschult werden, die Deutsch nur in dem Sinne verstehen dass sie die Wünsche der Deutschen verstehen und dienstbar zum Erfüllen derselben bereit stehen. Ein wenig tieferen Einblick in beide Länder zu haben, kann von großem Nutzen sein. Und aus dieser Sicht ist einfach der Trend zu beobachten, dass zu viele über eine Zwischenstation "Tourguide" dann doch lieber den Job in Deutschland annehmen, der besser bezahlt ist (und mit einem"normalen" Arbeitsvertrag lockt). Eine ganze Generation junger Sprachenkundiger, die nach 2004 in Litauen anzutreffen war, ist offenbar inzwischen nach Deutschland oder Brüssel weitergereist.
Es wird interessant sein, wie diese Diskussion weitergeht. Immerhin positiv aus litauischer Sicht ist noch, dass litauische Veranstalter von Rundreisen kein Problem haben auch Dienstleistungen in Lettland und Estland anzubieten und (in Deutschland) zu verkaufen. Zumindest aus Lettland war auch schon zu hören und zu lesen, dass litauische Firmen das Geschäft der deutschen "Baltikum"-Rundreisen dominieren - aber vielleicht profitieren davon nur die Agenturen, nicht die Guides.

Datenbank litauischer Tourguides  / Litauische Vereinigung "Solidarumas"

30 Oktober 2013

Von Vilne nach Vilnius

Bibliotheksdirektor Andreas Degkwitz begrüßte die 
Gäste im Namen der Veranstalter
"Die Geschichte meines Landes ist ohne die Geschichte der litauischen Juden nicht denkbar." So sagte es Deidivas Matulionis, Botschafter Litauens in Deutschland, zur Eröffnung einer Tagung mit dem Titel "Vilno - Wilna - Wilno - Vilnius". Zwei Tage trafen sich Wissenschaftler und Interessierte in den Räumlichkeiten der Adenauer-Stiftung in Berlin, um aktuelle Forschungsprojekte zur Frage der jüdischen Kultur, ihrer Vergangenheit, dem Holocaust und den Spuren in der Gegenwart auszutauschen. Vorangegangen war eine Auftaktveranstaltung im Jakob-und-Wilhelm-Grimme-Zentrum in Berlin, zu dem auch Davidas Geringas, einer der bekanntesten Musiker Litauens, zusammen mit Tänzerin Emi Hariyama vom Staatsballett in Berlin ihren Beitrag geleistet hatten.

Kulturminister Šarūnas Birutis und 
Botschafter Matulionis als aufmerksame Zuhörer
Grimmscher Märchen auf Jiddisch 
Eine "Topographie zwischen Moderne und Mythos" versprach die Veranstaltung zu liefern. Das lässt - gerade in Berlin - an die "Topographie des Terrors" und damit an die massenhafte Ermordung der Juden in Litauen zu Zeiten des 2-Weltkriegs denken. Bei der Eröffnung mühten sich die angereisten litauischen Politiker, Verbundenheit zu zeigen mit dem Schicksal der litauischen Juden: wenn schon das "litauische Jerusalem" unwiderbringlich verloren scheint, so gilt es ganz besonders, heute einzustehen für eine Aufarbeitung des Geschehens und eine Stärkung dessen, was noch da ist oder neu im Entstehen begriffen ist in Vilnius. So beeilte man sich also zu versichern, die Rechte aller Minderheiten seien im heutigen Litauen gesichert. Stolz weist man auf vorhandene Denkmäler und Gedenksteine und -tage hin, auf Litvaken-Kongresse und Gedenkreden der Präsidenten Litauens und Israels. "Vielfalt bedroht nicht die litauische Identität" - erneut ein Satz von Botschafter Matulionis, der andauernde Diskussionen in Litauen nur erahnen lässt. Unumstritten dagegen die kritische Rückschau auf die Sowjetzeit: "die Nazis haben das Judentum physisch vernichtet, die Sowjets geistig" - solche Statements konnte man auch von Seiten Holocaust-Überlebender, die nach dem Krieg in Litauen blieben, hören.

Von wieder aufzubauenden jüdischen Gebäuden und von zukünftigen Sommerlagern für die jüdische Jugend sprachen Artūras Zuokas, Bürgermeister von Vilnius, und Kulturminister Šarūnas Birutis. Vertretern des jüdischen Litauen wie Emanuelis Zingeris war es wichtig zu betonen, dass Informationen zur jüdischen Kultur inzwischen auch Stoff in litauischen Schulen geworden sei. Historikerin Ruth Leiserowitz erinnerte sich daran, 1997 erstmals mit deutschen und litauischen Historikern zu diesem Thema diskutiert zu haben - die Aufarbeitung des Themas in der litauischen öffentlichen gesellschaftlichen Diskussion werde daher sicher noch einige Zeit dauern, meinte sie.

Wissenschaftler wie der Historiker und Buchautor
Christoph Dieckmann stellten in Berlin Erkenntnisse
aus ihren Forschungsarbeiten vor
Die hauptsächliche Ausrichtung der gesamten Veranstaltung schien eher auf einer Zusammenfassung des aktuellen Standes der Wissenschaft zum Thema des jüdischen Vilnius zu liegen. Dabei wird ein Teil der Problematik schon im Städtenamen deutlich: "Vilne" ist Vergangenheit, Wilna war die polnische Stadt - Zusammenwachsen müssen die zukünftigen Interessen in Vilnius. Ob die litauisch-jüdischen Sympathiebekundungen der Politiker im heutigen, demokratischen Litauen Realisierungschancen haben - das muss wohl bei anderen Veranstaltungen, dann möglichst in Vilnius, diskutiert werden.

Bekannte Gesichter unter Interessenten am 
jüdischen Vilnius: Historikerin Ruth Leiserowitz
(geb. Kibelka, links) und Kulturwissenschaftlerin
Anna Lipphardt
Die Veranstaltung war auch als Auftakt weiterer Zusammenarbeit der verschiedenen Organisatoren gedacht, die sich hier zusammengefunden hatten - die Motivation hierzu wurde besonders stark von Julius H. Schoeps, Direktor des Moses-Mendelssohn-Zentrums mit Sitz in Potsdam, vertreten. Die zwei Tage in der Adenauer-Stiftung hätten ansonsten auch als konzentrierten Blick auf die Beziehungen zwischen dem jüdischen Berlin und Vilnius gelten können - ein Teil derjenigen Referenten, die andere deutsche Bezüge hätten berichten können, war nicht präsent (entweder nicht eingeladen, oder unpässlich). Bleibt also zu hoffen, dass die durch demokratische Grundlagen gestärkte Diskussion um das jüdische Vilne in Zukunft selbstverständlicher wird in einem modernen Vilnius - je nach Perspektive mit notwendiger schmerzlicher Erinnerung, oder auf einen selbstkritischen Blick aufbauendes gestärktes Selbstbewußtsein.


01 September 2013

Umzäunte Karbonaden

Desinfektionstrupps an allen östlichen Grenzen Litauens: Bilder und Zustände, die in diesem Sommer weitgehend am Touristenstrom vorbei in Litauen zu sehen waren, da sich das auf die östlichen Grenzen des Landes konzentrierte.
Was Deutschen vielleicht zuletzt aus Zeiten der "Vogelgrippe" bekannt ist, geistert seit einigen Wochen durch die litauischen Fernsehnachrichten. Beauftragte des staatlichen Veterinäramts besprühen, komplett in Schutzkleidung eingehüllt, sämtliche aus Belorussland einreisenden Fahrzeuge mit Desinfektionsmitteln und lassen sie über speziell vorbereitete Matten fahren. Es geht um die Afrikanische Schweinepest (ASP), die in Litauens östlichem Nachbarland ausgebrochen ist. In Grodno war Ende Juni ein Fall von Schweinepest von den Behörden festgestellt worden.
Bis vor kurzem wurden für die Vorsorgenmaßnahmen sogar Gebühren von den Speditionsfirmen verlangt. Regierungschef Algirdas Butkevičius stoppte dies erst nach Zusagen von Vertretern der Europäischen Union, Geld für einen entsprechenden Aktionsplan bereitzustellen. Bis dahin hatten die Desinfektionen Litauen täglich etwa 17.000 Litas (ca.5000 Euro) gekostet.

Ein "Aktionsplan" soll es sein
Seit Anfang Juli ist die Problematik akut, und in dem Zeitraum in dem Litauen sich genötigt sah, vorbeugende Maßnahmen zu treffen, kursierten verschiedene Vorschläge was zu tun sei. Auch Verteidigungsminister Juozas Olekas wurde aktiv - in Vertretung des bis dahin noch im Urlaub befindlichen Regierungschefs. Manche Ideen greifen dabei ziemlich weit: "Wir könnten alle Bären in 10km Grenznähe töten" - solche Aussagen sind von Jonas Milius, Chef der litauischen Veterinärbehörde, überliefert (15min). Bekannt ist die Gefahr der Übertragung des Virus durch Wildschweine.
Neue Steuern für die Transportindustrie wollten Agrarexperten einführen, nachdem bereits der Einfuhr einiger Produkte aus Belorußland vorübergehend untersagt worden war.

Nun ist zu lesen, dass jetzt vom Bau von Zäunen oder gar Mauern die Rede ist. Angeblich haben außer Litauen auch Lettland und Polen ähnliche Pläne. Nun ist von Tiergehegen bereits bekannt wie schwierig es ist, von Wildscheinrotten die Beachtung von einfachen Zäunen zu erwarten. Zudem würden solche Anlagen Millionen von Euro kosten - in Ländern, deren Einwohnern ein dem EU-Durchschnitt entsprechender Arbeitslohn nicht zugestanden wird.  Andere reden vorerst nur vom Aufbau von "Pufferzonen" - was aber wohl dasselbe bedeuten soll: Zaunbau, und auch Tötung von Schweinen in bis zu 10km Entfernung von der Grenze? 400km Zaunbau - allein in Lettland - und geschätzte 60 Millionen Euro für ein derartiges Projekt in den betroffenen Ländern insgesamt, eine verrückte Idee?

Schweinemast ist gegenwärtig in Litauen ein ökonomisch relativ erfolgreicher Agarbereich; 2010 waren 442.600 Schweine exportiert worden, den größten Anteil nach Russland. 2011 war auch in Litauen die Schweinepest ausgebrochen. Die meisten größeren Mastanlagen sind in Litauen erst in den vergangenen Jahren neu entstanden. Besonders junge Schweine gelten als stark ansteckungsgefähret gegenüber dem ASP-Virus.


29 August 2013

Österreich-Ungarn in Litauen

Gerade hat Vilnius die "Baltic Pride" überstanden, und einige litauische Kommentatoren meinten hoffnungsvoll, ein solches Spektakel sei in Zukunft nicht mehr notwendig. Wochenlang wurde im litauischen Fernsehen das Für und Wider der öffentlichen Regenbogen-Events diskutiert, und manche sehnten sich sogar "russische Verhältnisse" herbei (Verbot öffentlichen Eintretens für die Rechte von Schwulen und Lesben). 
Ob nun die Litauer dieses Thema anhand der Beziehungen mit Österreich neu aufwärmen, wird wohl an ihnen selbst liegen. Schwule Diplomaten wie der neue Botschafter Österreichs in Vilnius, Johann Spitzer, gelten spätestens seit Guido Westerwelle als nichts Sensationelles mehr. Und dem Portal "Queer" zufolge lebt Spitzer ja mit einem Ungarn zusammen, nicht etwa mit einem Litauer (was ihm "weder geholfen noch geschadet" habe). Allerdings sorgte Spitzer auch in Österreich offenbar schon für Aufregung, als er sein eigenes Heimatland wegen Diskriminierung seines Lebenspartners verklagte und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 25.000 Euro Schadensersatz zugesprochen erhielt (siehe "Queer").
Spitzer sei einfach der "bestgeeignete Bewerber"gewesen, schreibt auch der "Standard", und wird somit zum ersten schwulen Botschafter Österreichs. Die Zeitung sieht die Ernennung auch "Herausforderung für Litauen", auch wegen der starken Stellung der katholischen Kirche dort.

12 Juni 2013

Großstädtische Begeisterung

Barfuß in the Cities: Savisaar, Radzevičs, Zuokas
Während die drei baltischen Staaten vor allem unter Landflucht leiden - das Leben außerhalb der Städte scheint wesentlich schwerer als nahe der Hauptstadt - feierten die drei Hauptstädte kürzlich bei einem Treffen in Vilnius ihre Zusammenarbeit. Nein, keine Angst - die Fußabdrücke stellen nicht den Beginn eines "Walk of fame" der Bürgermeister (und ihrer Füße) dar; die Steinquader sollen symbolisch an den "Baltischen Weg" erinnern, der 1989 die drei Städte Vilnius, Riga und Tallinn durch eine etwa 600km lange Menschenkette verband - und damals an den 50.Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts erinnerten, der die drei Staaten dem Einflußbereich der Sowjetunion auslieferte.
Wer kennt andere Projekte, in deren Rahmen alle drei Hauptstädte mal zusammengearbeitet haben? Auch den drei abgebildeten Helden fällt offenbar vorerst nichts anderes ein, als an lange zurückliegende Vergangenheit zu erinnern. 1993 wurde ein Abkommen der Zusammenarbeit geschlossen. Heute konkurriert man um Investitionen, Verkehrsströme, Konsumenten und Prestigeprojekte.

22 Mai 2013

Show mit Nachwirkungen

Ist es nun ein Skandal, oder nicht? Die Strukturen der Diskussion über den "Eurovision Song Contest" (ESC) sind ja immer ähnlich - wer hinten landet, schimpft auf "Manipulation" bei anderen Ländern. Bloße Sympathien für Nachbarländer gelten offenbar als genauso anrüchig wie für andere die angeblich übermächtige Kommerzialisierung der Kultur, oder für die Dritten dann wieder die angebliche Benachteiligung kleinerer Länder - je nach Perspektive. Manche -. wie dieses Jahr Mazedonien - beschweren sich auch über die Präsenz von Lesben und Schwulen beim ESC (siehe Bericht QUEER). Aber wie steht es damit, wenn Menschen in anderen Teilnehmerländern Geld dafür angeboten wird, möglichst oft und mit möglichst vielen Handys für ein bestimmtes Lied abzustimmen? Ist das schon Manipulation - oder ist es sogar Steigerung des Aufmerksamkeits-Effekts für den ESC bei denen, für die es sonst ziemlich egal wäre wer gewinnt? In der Presse kursieren nun mehrere Varianten des angeblichen "Stimmenkaufs".

Litauen - Russland - Aserbeidschan: osteuropäisches "Bermuda-Dreieck"?
von Hackern vorläufig "stillgelegt" ...
Stimmenkauf beim ESC anderen vorzuwerfen - offenbar
ein vielfach heiß diskutiertes Thema.
Was wurde also in dieser Woche vom litauischen Portal "15min" wirklich aufgedeckt? Um es noch mal klarzustellen: es geht NICHT um eine Bestechung einer Jury, oder um die Verfälschung einer telefonischen Abstimmung. Es geht allerdings sehr wohl um die Verfestigung verschiedener Vorurteile - je nach Perspektive. Wenn also hierzulande die FAZ  dieses Thema entdeckt, dann muss man wohl die Leserreaktionen wie diese gleich mitlesen: "Ich fordere: Aserbaidschan schnell in die EU! - ...denn die Mentalität passt so schön zu der unserer 'guten Europäer' in Brüssel." Ein Schuß EU-Bashing kann offenbar nicht schaden, findet immer Anhänger. Besonders wo manche sogar schon davon reden, dass beim ESC nicht über den deutschen Beitrag von Cascada, sondern eigentlich über Angela Merkel's Deutschland abgestimmt hätten. Da fällt mir doch eine Reaktion aus Lettland ein, die zwar schon einmal gewonnen haben, 2013 aber zum fünften Mal hintereinander das Halbfinale nicht überstanden. "Für kleine Länder stimmt eben niemand!" war von dort auf einem Internetportal zu lesen. Wie man sieht, sind im Elfenbeinturm mehrere Zimmerchen frei ...

Show und Politik
Aber wer glaubt, so ein "Trällerwettbewerb" sei nicht wichtig genug, der kann diese Woche noch mehrere Varianten dieser "Stimmenkauf-Story" in der Presse nachlesen. Je nach Land mit unterschiedlichen Vorzeichen. Ein anderes litauisches Internetportal, delfi.lt, schrieb über eine zweite Möglichkeit auf ähnliche Weise Geld zu verdienen: nur das diesmal nicht für Aserbeidschan sondern zu Gunsten Russlands gestimmt werden sollte. Hinzugefügt werden muss vielleicht noch der ungewöhnliche Umstand, dass es diesmal keine Punkte für Russland aus Aserbeidschan gab. Resultat: Ein Sturm der Entrüstung, und Drohbriefe an DELFI.LT (dokumentiert auf der lettischen Partnerplattform DELFI.LV). Die Anklündigung: man werde dieses "Massen-Desinformationsmittel" stilllegen. Resultat: die Drohungen wurden realisiert, vorerst ist DELFI.LT nicht erreichbar. Man habe sich an die litauische Polizei gewandt, erzählt Kristijonas Šauļis als Vertreter von Delfi.lt den lettischen Kollegen. Die Schuldigen werden nun gesucht.

Und mit einer weiteren Variante zum Thema "Stimmenkauf" wartet nun auch "Spiegel online" auf: hier geht es um Vorwürfe Russlands an Aserbeidschan. Dort sei der russische Beitrag der Sängerin Dina Garipova angeblich bei der SMS-Abstimmung auf Platz 2 gelandet. Das hätte zwar nicht automatisch 10 Punkte bedeutet (wie Spiegel schreibt), sondern 50% der Abstimmung wurden auch hier Stimmen einer Jury gewertet. Aber dass Russland auf dem afghanischen Billboard gar keine Punkte bekam, das veranlasste angeblich sogar den russischen Außenminister Lawrov bei Gesprächen mit seinem afghanischen Kollegen das Thema anzusprechen (siehe auch WELT). Lawrow ging aber nicht soweit zu behaupten, die volle Punktzahl von 12 für den aserbeidschanischen Beitrag sei ebenfalls eine "technische Panne" gewesen. Was solls - oder müssen wir nun - analog dem Sport - nun auch beim Gesang ein "Sängergericht" einführen?
Laut russischer Nachrichtenagentur NOVOSTI hat Lawrov bei seinem Kollegen bereits eine "Bestrafung der Schuldigen" durchgesetzt - obwohl die EBU an der Korrektheit des Votings festhält (siehe EBU-Stellungnahme).
Immerhin verleitet der Vorgang auch die deutsche Ausgabe des "Wallstreet-Journal" zu einem Kommentar, die die Abstimmungsfakten ganz beiseite läßt: "Offen bleibt dabei, ob es sich bei dem “Zwischenfall” tatsächlich um verlorene oder unterschlagene Stimmen handelt – oder ob der eigentliche Skandal darin besteht, dass sich die Aserbaidschaner in Sache Musik eine eigene, politisch unkorrekte Meinung anmaßen."
Da lohnt sich auch mal bei NDR-Kommentator Jan Feddersen nachzulesen. Er weist auf die Möglichkeit hin nur das Jurywertung zu werten: nämlich dann, wenn nicht genug Anrufe eingehen. 

Stimmenkauf, multikulturelle Sympathien, oder doch nur PR?
Erstaunlich, erstaunlich, diese ESC-Nachwirkungen. Vorläufig scheint es nicht nur einen Wettbewerb um die ESC-Sieger, sondern auch um die beste Geschichte rund um angeblichen Stimmenkauf zu geben. Bei "VIP.DE"führt es schon dazu, dass beide Quellen (die litauische und die russische) vermengt und verdreht wiedergegeben werden.
Nächste Variante: die "Deutsch-Türkischen Nachrichten" berichtete bereits vor dem Finale vom angeblichen Angebot des diesjährigen ESC-Zweiten Farid Mammadov im nächsten Jahr für die Türkei antreten zu wollen. Kommentar des Portals dazu: "Wer hierbei glaubt, Mammadov gehe auf Punktefang, liegt jedoch falsch. Denn die Türkei ist beim diesjährigen ESC nicht vertreten. Aufgrund des 'Punktezuschiebens' mehrerer Länder erklärte das türkische Staatsfernehen TRT, 2013 nicht teilnehmen zu wollen." - Ach, nun plötzlich Aserbeidschan als Garant einer multkulturellen Perspektive? Oder doch eine andere Erklärung dafür, dass Mammadov auch in Ländern viele Stimmen bekam wo viele Türken wohnen? (siehe auch "Eurasisches Magazin").
Auschnitt aus dem auf "15min"publizierten Video:
Kompromittierendes - oder Inszeniertes?
Eine eigene Meinung hat auch die "Rheinische Post" und schreibt (ohne Quellen zu nennen) von früheren Vorwürfen gegen Aserbeidschan, schon frühere Abstimmungen "über PR-Agenturen" manipuliert zu haben. Nun ist PR ja an sich schon ihrer Bestimmung nach möglicht manipulativ - aber ebenfalls legal.

"Wer soll das bezahlen?" titelte der "KURIER" aus dem ebenfalls früh ausgeschiedenen Österreich - und meinte damit allerdings die Sorgen der Ausrichter des nächsten Jahres, Dänemark. Bei den Antwortmöglichkeiten auf diese Frage sind der Phantasie offenbar keine Grenzen gesetzt. Derselbe KURIER meinte übrigens zu wissen, warum gerade Österreich 12 Punkte an Afghanistan vergab, und konstatierte beim kultigen deutschen Moderator Peter Urban, der darüber Unverständnis äußerte, "verwirrte Sinne".

Übrigens: Sowohl der estnische Beitrag wie auch Andrius Pojavis überstanden nur knapp das Halbfinale - die Estin als 10., Pojavis knapp davor. Im Finale erhielt der litauische Beitrag selbst aus Irland, dem Arbeitsplatz vieler Litauer, nur einen Punkt (aus Aserbeidschan 3, aus Weißrussland 5). Italien, das eigentliche neue Heimatland von Pojavis, spendierte ganze 6 Punkte. Also: zumindest in Italien hat der ESC für positives litauisches Aufsehen gesorgt.

Und für das erst vor einigen Monaten neu gestartete Nachrichtenportal "15min" (das, wie die FAZ richtig bemerkt, zum norwegischen Medienkonzern Schibsted gehört), war es auf jeden Fall ein PR-Erfolg: der Bericht erzeugt gegenwärtig in vielen Ländern Europas Aufsehen (Italien, Schweden, Dänemark, Belgien, Serbien, Spanien, Norwegen, Ungarn - und sicher noch einige mehr) - wobei viele daran zu verzweifeln scheinen weder Litauisch noch Russisch zu verstehen. Nur die Medien in Aserbeidschan selbst sind sich völlig sicher: "Litauisches Video ist eine Fälschung." (News.az)
Mal sehen, wer das nächste Kapitel schreibt.

mehr dazu:
Wortprotokoll bei 15min.lt: So versuchten sie unsere Stimmen zu kaufen ...

Beitrag DELFI.LV zu den Hackern bei DELFI.LT / Beitrag Spiegel online /

Stellungnahme der EBU zum "Bestechungsvideo" aus Litauen /

09 Mai 2013

Der deutsche Blick auf Grybauskaitė

Kurz mal ein Resumee des Tages: es gibt sicher Litauerinnen und Litauer, die keine Anhänger ihrer Präsidentin Dalia Grybauskaitė sind - aber die Litauer in Deutschland werden sicher genauer als üblich hingesehen haben.
Es gibt selten Tage, an denen im Rahmen einer offiziellen Feierstunde Politiker aus Litauen in Deutschland geehrt werden - Vytautas Landsbergis, vor 25 Jahren im Fokus heute vielzitierter Ereignisse, wird sicher ein ganz klein wenig neidisch gewesen sein.
Aber am Ende dieses Tages, nachdem sich am Mittag noch alle Festredner redlich bemüht hatten, auch die litauischen Namen korrekt auszusprechen (und es abends im ZDF schon wieder nach "Grippkaußkeite" klang) werden Litauen-Freunde sehr schnell merken, dass die Litauen-Aufmerksamkeit nur einen Tag dauerte - mit Ausnahme vielleicht von Aachen, wo etwa 40 Veranstaltungen rund um die Preisverleihung stattgefunden haben.
Was bleibt am Ende dieses Tages von all den Festreden?

Eisen, Bernstein oder Karate?
"Die europäische Hochprominenz macht sich diesmal rar" schrieben die "Aachener Nachrichten" in einem Vorbericht. Das weist schon darauf hin, dass die Leistungen oder ehrenvollen Verdienste der Preisträger nicht der einzige Faktor und Ziel der Karlspreis-Veranstaltung sind. Aachen bemüht sich Jahr um Jahr, an einem Tag im Jahr wenigestens im deutschsprachigen Teil der Welt so etwas wie Europa-Treffpunkt zu sein. Ein Treffpunkt allerdings nur für Eingeladene: nicht zufällig zeigten die Fernsehkameras die winkende Preisträgerin und die Laudatoren auf dem Rathausbalkon, aber nicht das Volk davor. Die Absperrungen waren ziemlich weiträumig, und es gibt durchaus Fotos auch von den Rahmenveranstaltungen vorher, auf denen zu vermuten ist dass die Aachener Veranstalter sich um eine möglichst bunte Mischung an Angeboten bemühten - es ging nicht darum Litauen kennenzulernen.

Frau Präsidentin zu Besuch in der Stadt,
die in Deutschland zumindest im Alphabet
immer ganz vorn steht
(Foto: 15min.lt)
Ja, ich wage sogar leicht anzuzweifeln, ob alle diejenigen, die als Autoren der Lobreden auf Dalia Grybauskaite verantwortlich zeichneten, sie auch wirklich meinten. Laudator Martin Schulz beispielsweise setzte sich nach seiner Rede derart demonstrativ mit schnell übereinandergeschlagenen Beinen auf seinen Platz mit dem Rücken zu Grybauskaite, dass diese einige Mühe hatte ihm ihren formellen Dank per Handschlag zu versichern.
Manches klang vielleicht eher wie ein Wettstreit an Plattitüden: ob nun eher eine "Bernstein-Lady" gemeint war, oder die "Eiserne Lady des Baltikums", oder aber die "Karate-Lady" - diese drei Varianten klingen genauso hilflos wie die Bezeichnung "Oskar der Politik" für den Karlspreis, die von des Deutschen unkundigen Journalisten der "Baltic Times" erfunden worden sein soll.

Ach damals!?
Aber suchen wir mal die Fakten zusammen. Was können wir aus den zweifellos zahlreichen Pressebeiträgen über Litauen oder die Präsidentin lernen, die wir lesen, hören und sehen durften? Vieles wirkte wie eine nachgeholte Geschichtsstunde - als es noch um größere Schlagzeilen ging als brav zurückgezahlten Weltbankkredite.
"Grybauskaite gab ihr Parteibuch erst ab, nachdem die Unabhängigkeit besiegelt war", merkt Tim Krohn für die ARD an. Immerhin wird Grybauskaite's Doktortitel nicht angezweifelt - obwohl sie diesen im sowjetischen Studiensystem erwarb, noch zu Zeiten vor Gorbaschow. Aber nachdem jemand im demokratischen Litauen Finanzministerin und in Europa Haushaltskommissarin war gehört sich das wohl nicht - zumal einige der Europa-Strategen Frau Dalia gern nach Ablauf ihrer Präsidentenamtszeit in ein Spitzenamt nach Brüssel zurückloben würden.

Andere Klippen wurden heute absichtlich umschifft. Einen Satz mit "In einem Land, wo xy passiert und xx gemacht wird" zu beginnen ist ein beliebter Sport für Leserbriefschreiber und Politagitatoren aller Art. Aber wenn die ARD auch darauf hinweist, Grybauskaite sei, da unverheiratet und kinderlos, auch schon mal als "lesbisch" beschimpft worden, dann wird aus diesem Anlaß nicht die schwierige Lage von Schwulen und Lesben in Litauen diskutiert - was auch nie Grybauskaites Thema war.
Schwieriger macht es sich da schon Aachens OB Marcel Phillip, der - obwohl noch Anfang März zu Besuch in Litauen weilte - heute von der "schöpferische Kraft der Peripherie" in Bezug auf Litauen zu reden wagte (die Mitte Europas in Litauen hat er demnach nicht besucht).

Wer oder was ist eigentlich Litauen? 
Nein, von einer litauischen Perspektive war nicht sehr viel die Rede heute. Schon gar nicht von Michael Schulz, der mit seiner kräftigen Stimme eine Spur zu deutlich schon im Wahlkampfmodus war und mehrfach SPD-Themen für das ausgab, was er angeblich von Grybauskaite gelernt haben will. Mehrfach erwähnte er Jugendarbeitslosigkeit fast im gleichen Atemzug mit der Feststellung dass in Litauen "die Krise" ja bereits vorbei sei. Nun, es saßen die Preisträger des sogenannten "Jugend-Karlspreises" mit in der ersten Reihe, und bei deren Festveranstaltung Tage zuvor, und bezogen auf ganz Europa, hätte das Thema ja auch Sinn gemacht.

Litauische Einsprengsel beim Europa-Feiern in
Aachen - außerhalb der Feierlichkeiten
offenbar nicht immer für alle ein Anziehungspunkt
(Foto: Aachener Nachrichten)
Bezogen auf Litauen aber muss Schulz wohl entgegnet werden: zwar leiden die jungen Litauerinnen und Litauer darunter, dass sie mit ihrer guten Ausbildung, mit ihrem Engagement und ihrer Einsatzbereitschaft keinen adäquat bezahlten guten Job im eigenen Land finden und in großer Zahl ins Ausland gehen (schon zum Studium). Aber die Jugend hat das Leben noch vor sich und kann vielleicht nach ein paar Jahren, an Erfahrung reicher, nach Litauen zurückkehren. Schlimmer sind wohl die älteren Generationen dran: wer in Litauen nicht gerade Präsidentin ist und die Ausbildung noch zu sowjetischen Zeiten machte, hat arbeitssuchend bei den politisch herbeigesehnten Investoren aus dem Ausland kaum eine Chance. Und was die Alten angeht zitiere ich eine Schlagzeile aus der litauischen Presse von heute: "10.000 litauische Rentner müssen mit nur 5 Euro pro Tag überleben" (15min.lt). Durchschnittlich sind es 236 Euro, aber vielen bliebt nur etwa 100 Euro zum Leben, nach Abzug der laufenden Kosten. Und Frauen sind dabei noch viel schlechter gestellt als Männer.

Die Rentner - ja, die Politrentner schickte Deutschland vor 20 Jahren noch wohin? Ja, genau, nach Europa! Ausgediente Landespolitiker, von denen man wohl meinte,sie von den Parteilisten "wegloben" zu können. Interessant dass Schulz gerade heute darauf hinwies, dass in den baltischen Staaten die Karrieren umgekehrt verlaufen: zuerst ins Europaparlament, dann zurück als Regierungschef (Ansip in Estland, Dombrovskis in Lettland). Wie Schulz wohl seine eigene persönliche Leistung einschätzt? Grybauskaite drückte es unverblümt aus: "Ich bedanke mich für die freundlichen Worte von Herrn Schulz, denn das Parlament zählt für uns." Tja, Herr Parlament - nun wissen Sie auch mal, warum Sie hier eingeladen sind. Nachdem Sie schon die Themen Steuerbetrug, Bürokratieabbau, die EU-Ostseestrategie, und die östliche Partnerschaft erwähnt haben - alles Themen die Grybauskaite höchstwahrscheinlich teilt - und eine europäische Wirtschaftsregierung gefordert haben - was in Europa noch heiß diskutiert wird - blieb Grybauskaite eher die angesichts der Ehrung und des Augenblicks dankbare Zurückhaltung. Immhin hatte Schulz die Litauer kurz zuvor "zu zwei Dritteln pro-europäisch" bezeichnet (und sich dabei wohl auf die Volksabstimmung vor 10 Jahren bezogen, anders wäre es nicht mit Zahlen zu belegen gewesen). Und Schulz hatte Litauen auch während des Weltkriegs "von Nazideutschland besetzt" bezeichnet, und die Ermordung der Juden freundlicherweise ebenfalls ganz diesen Nazi-Deutschen zugeschrieben.

Trotz diesen Freundlichkeiten klang das "Frau Grybauskaite, wir vermissen Sie" nicht wie eine Liebeserklärung - eher wie ein Hilferuf angesichts der sonst als eher undurchschaubar oder gar korrupt empfundenen Strukturen der litauischen Exekutive wie Legislative. Doch Litauen wollte ja und sollte auch an diesem Tag (Finanz-)Vorbild sein gegenüber Rest-Europa (das übrigens niemand auch nur mit einem einzigen Wort erwähnte - Bezüge zu einem der nicht so "braven" EU-Länder meine ich). Also verboten sich allzu hässliche Theman von selbst. 

Kein Gauck im Saal
Ein Joachim Gauck hätte sicher auch gut hineingepasst in diese Veranstaltung. Ob sein Kalender frühzeitig anderweitig verplant war, ob er nicht eingeladen war, oder ob Aachens OB Phillip sich Versatzstücke seiner Reden ausgeliehen hatte - wir wissen es nicht. Sätze wie "in Litauen ist der Sinn für die Freiheit präsenter" oder "die Strahlkraft Litauens ist auf der Sehnsucht nach Freiheit basierend" (beides O-Ton Phillip) hätten auch von Gauck gesagt werden können. Aber sie klingen doch etwas zu sehr nach Vergangenheit. Ob man mit dem Beitritt zum Euro nicht wieder ein Stück Freiheit aufgibt - das wäre ein Beitrag zu einer aktuelleren Diskussion gewesen. Und auch Grybauskaite hatte offenbar nicht vor durch allzu gewagte philosophische Statements den europäischen Gedanken neu zu beleben - zu wichtig war ihr die Feststellung, dass sie den Preis und die Ehre auch stellvertretend für die Bürgerinnen und Bürger ihres Landes annimmt. Vielleicht war dies allein schon gewagt genug - wo die verschiedenen Gastgeber doch viel lieber von "Führungspersönlichkeiten" sprachen die angeblich einzig die Rettung Europas sein können.

Nein, es war auch vor 25 Jahren schon nicht die "Führungspersönlichkeit" Gorbatschow, der Litauen Freiheit, Unabhängigkeit und Demokratie brachte. Es musste gegen Gorbatschow erkämpft werden, und Litauen setzt sich heute noch für eine Strafverfolgung derer ein, die 1991 bei den blutigen Einsätzen der Sondereinheiten Verantwortung trugen - mit durchaus mäßiger Unterstützung der EU.
Ich bin gespannt auf die nächste Preisverleihung - vielleicht eher eine, wo das Establishment sich nicht nur selbst feiert. Also vielleicht eine in Litauen - wo dem geehrten europäischen Gast dann mal klar gesagt wird: hör mal, dieses und jenes von euch hat uns echt genervt, und diesese andere hat uns gefreut. Vielleicht gibt es ja mal einen solchen Anlaß, wenn Deutschland etwas dafür tun muss dass es Litauen gut geht. Bei der Aufhebung der Beschränkungen auf dem Arbeitsmarkt war Deutschland schon mal kein Vorreiter - aber es gibt ja noch genug anderes zu tun in Europa.

05 April 2013

Türkischer Weg nach Europa führt über Vilnius

In den kommenden Wochen wird die litauische Hauptstadt Vilnius etwas mehr im Fokus der europäischen Politik stehen als gewohnt: am 1.Juli 2013 übernimmt Litauen die EU-Ratspräsidentschaft, und damit auch für ein halbes Jahr so etwas wie die Federführung bei einigen in der Diskussion befindlichen Themen.

Außenminister Linkevičius und Europaminister Bağış
In dieser Woche nutzte das bereits eine hochrangige Delegation aus der Türkei, angeführt von Präsident Abdullah Gül. Litauen sei bereit, so betonte der litauische Außenminister Linas Linkevičius, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei während der Ratspräsidentschaft mit der notwendigen Aufmerksamkeit zu begleiten. Auch gegenüber dem türkischen Europaminister Egemen Bağış äußerte Linkevičius die Bereitschaft Litauens, in einen Erfahrungsaustausch mit der Türkei bezüglich der europäischen Integration einzutreten.

Wie steht Litauen zur Türkei? Die Beitrittsgespräche der Türkei gelten momentan als "festgefahren" - von 35 Verhandlungskapiteln sind erst 13 eröffnet.
Wie steht Litauen zur Türkei? Hier das Orakel
litauischer Basketball-Fans: natürlich frisst
die litauische Katze aus dem litauischen Topf ...
Litauen wird sich seinerseits 2014 in Ruhe ansehen können, wie die Einführung des Euro im nördlichen Nachbarland Lettland ablaufen wird, und vielleicht auch "je nach Stimmungslage" entscheiden, ob es ein "mehr Europa" oder "weniger Europa" in Litauen geben wird. Das aber wird erst nach der litauischen EU-Präsidentschaft zu entscheiden sein. Die litauischen Diplomaten sind schon jetzt stolz: "Nach der hart zurückerkämpften litauischen Unabhängigkeit, und dem Beitritt zur Europäischen Union ist diese Ratspräsidentschaft ein erneuter Höhepunkt für Litauen", sagt Deividas Matulionis, Botschafter Litauens in Deutschland. Aber vorläufig läßt sich niemand auf litauischer Seite zu Äußerungen hinreißen, die über die sattsam bekannten Floskeln hinausreichen würden: "Die Türkei braucht Europa, und Europa braucht die Türkei", so wird Präsidentin Grybauskaite zitiert.
Litauische Politiker ließen sich aber auch nicht hindern, eine parlamentarische Unterstützergruppe "Litauen-Armenien" zu gründen - was vor allem in der armenischen Presse zu positiven Reaktionen führte. Für die Türkei dagegen gelten einige historische Fragen, Armenien betreffend, als sehr sensibles Terrain.

Dagegen lassen die türkischen Pressemeldungen aus Vilnius schon eher eine Akzentuierung erkennen: "Türkei hält die momentane Situation auf Zypern für günstig, um die Spaltung der Insel zu überwinden" - so gibt es der TAGESANZEIGER aus Zürich wieder. Seit 1974 ist Zypern geteilt, und anders als die EU erkennt die Türkei den südlichen Teil nicht an - wohl aber die "Türkische Republik Nordzypern", der es umgekehrt an der internationalen Anerkennung mangelt. Auch das ist ein Hindernis der türkischen EU-Annäherung.
Europaminister Bağış äußerte die Hoffnung, in Kürze sowohl die Verhandlungen zur Regionalpolitik als auch zur Sozialpolitik mit der EU eröffnen zu können (siehe: 15min). Die Türkei hoffe außerdem auf Erleichterungen bei den EU-Visabestimmungen.

Schaut man sich die Aussagen des türkischen Außenministeriums zu Litauen an, so fällt auf, dass auch die Türkei wert darauf legt, die sowjetische Okkupation nie anerkannt zu haben. Außerdem betont Ankara das starke Wachstum im Bereich des Tourismus: bereits 70.000 Gäste aus Litauen hatte die Türkei 2012 zu verzeichnen. Um diesen Trend zu unterstützen, hofft der Flughafen Vilnius auf die Neueröffnung einer Direktverbindung von Turkish Airlines von Vilnius nach Istambul.
Und was militärischen Optionen angeht, liest sich die türkische Fassung so: die Türkei habe Litauen beim NATO-Beitritt unterstützt, und so unterstütze jetzt Litauen die Türkei gegenüber der EU.

Litauens Nachbar Weißrussland dagegen hebt besonders die Unterzeichnung eines türkisch-litauischen Abkommens über eine Container-Linie per Bahn vom Schwarzen Meer nach Klaipeda hervor. Diese sogenannte "Viking-Route" ist 1734km lang und wurde initiiert von den Häfen Illichivsk, Odessa (beides Ukraine) und Klaipeda (Litauen), Bulgarien und Rumänien schlossen sich später an. In Gesprächen mit dem türkischen Verkehrsminister Binali Yildirim wurden nun mehrere Möglichkeiten diskutiert, auch die Türkei an diesem Projekt zu beteiligen (siehe auch: Baltic Course). Dazu müsste entweder ein Teil des Transportes über das Schwarze Meer per Schiff vorgenommen werden, oder eine neue Bahnstrecke entlang des Schwarzen Meers gebaut werden.

25 März 2013

Nun soll es Dirkas machen!

Diese schicken Tänzerinnen, die in den Pausen
der Spiele von "Lietuvos Rytas" die Zuschauer
erfreuen, werden nun auch den deutschen Trainer
versuchen aufzumuntern (Foto: Homepage L.Rytas)
Das ging schnell:vielleicht waren die Kontakte ja schon seit der Basketball-Europameisterschaft 2011, als deutsche Journalisten erstmals täglich von litauischen Sportstätten berichteten gewachsen. Nun zog es einen der bekanntesten Basketball-Trainer und Ex-Bundestrainer in die litauische Hauptstadt: Dirk Bauermann.
Ob es Lietuvos Rytas Vilnius wirklich beim Siegen hilft, bleibt abzuwarten. Er hat gleichzeitig einen bis 2014 laufenden Vertrag als Nationaltrainer Polens, da wird abzuwarten sein welchen der beiden Jobs er als Standbein entwickelt.
Jedenfalls wird der gebürtige Oberhausener wohl dafür sorgen, dass demnächst mehr von Erfolgen und Mißerfolgen der litauischen Zwei-Meter-Sportler auch in deutschen Medien zu lesen sein wird. Das könnte den Wissenslücken der Sportfans ebenso gut tun wie der Stadt Vilnius, die endlich mal mit ihrem wahren Namen wiedergegeben wird (ein Teil des amtlichen Deutschland sagt immer noch lieber "Wilna"). Sprachlich haben Basketball-Trainer ja meist gar keine Schwierigkeiten: die Kommunikation der Korbjäger ist meist aufs Englische konzentiert, auch wenn bei Lietuvos Rytas neben einem Serben, einem Bulgaren, einem Kroaten und einem Letten nur zwei US-Amerikaner spielen (der Rest alles Litauer).
Also nur zu, Valstiečių vyras (Dirkas Bauermannas)!
Bauermanns erstes Interview als LRytas-Trainer ("Ich bin stolz hier Trainer zu sein")

21 Februar 2013

Wem helfen EU-Fördergelder?

Wie sieht die Europabilanz für Litauen eigentlich aus? Mal abgesehen von der beliebten Diskussion um die Landwirtschaft - nutzt Litauen die Möglichkeiten der verschiedenen EU-Förderprogramme aus? Zur Zeit kursieren dazu sehr unterschiedliche Einschätzungen.

Wer profitiert vom EU-Geld?
"Litauen führt EU-Rangliste bei der Inanspruchnahme von EU-Finanzmitteln an" - das läßt sich in der "EU-Infothek" nachlesen.Hier wird vor allem eine aktive Inanspruchnahme von Mitteln der Regionalpolitik geschildert: für den Zeitraum 2007-2013 seien bereits 3.239 Projekte umgesetzt und über 3 000 weitere Projekte beantragt worden. Zusammengenommen macht das, diesen Angaben zufolge, eine hübsche Gesamtsumme von 6,885 Mrd.Euro aus. Erwähnt wird dabei auch, dass 2009 das Pro-Kopf-BIP bei 58 % des EU-Durchschnitts lag (und im Krisenjahr 2009 um 14.8% abstürzte) - Litauen ist damit eine sogenannte "Konvergenzregion", also das "Aufholen" gegenüber den anderen EU-Staaten wird besonders gefördert. Eine Rechnung der "Wirtschaftswoche" zufolge wäre Litauen eines derjenigen Netto-Empängerländer, die am meisten von EU-Zahlungen profitieren.
Dieser Darstellung vom rein positivem Wirken der EU-Gelder stehen Berichte wie in DIE WELT vom 3.Februar: hier wird Litauen als Beispiel scheinbarer Verschwendung von Geldern genannt. Bauen mit EU-Zuschuß - mit dem guten Argument verbesserter Energieeffizienz - dass sei in Litauen häufige Praxis. Gut angelegt, mag da jeder denken, denn Litauen setzte lange auf die veraltete Atomenergie und muss besonders effektiv mit den vorhandenen Energieressourcen umgehen. Einziger, aber entscheidender Schönheitsfehler offenbar: im Resultat wird bei den Bauträgern offenbar nicht mehr so genau hingeschaut, ganz nach dem Motto: Hauptsache Wirtschaftswachstum! "Hier wird nur in Beton investiert", sollen sich schon EU-Abgeordnete geäußert haben.

Regional, national und ganz egal ...?
Ebenfalls eine kritische Innenansicht der litauischen Regionalpolitik äußern Michele Knodt und Sigita Urdze in einem kürzlich erschienenen Beitrag für ihr Buch "Die politischen Systeme der baltischen Staaten". Die beiden Buchautorinnen stellen für Litauen - ähnlich wie für Estland und Lettland - fest, dass meistens die zentralstaatliche Administration über die Details der Politik entscheidet. Dies widerspreche teilweise sogar den Richtlinien der Europäischen Union, denn eigentlich sei Dezentralisierung und eine gleichzeitige Stärkung von Bezirken und Kommunen das Ziel gewesen. Besonders unter dem Druck der Weltwirtschaftskrise sei dieses Ziel aber schnell aufgegeben worden, heißt es hier. Knodt/Urzde weisen die zunehmende Vernachlässigung der litauischen Regionen an Beispielen der Entwicklung seit Mitte der 90er Jahre nach. Als die Europäische Kommission 1997 für Litauen ein völliges Fehlen jeglicher Konzepte der Regionalpolitik konstatierte, habe Litauen nur ein Jahr später mit Richtlinien zur Regionalpolitik und dann mit der Annahme der "European Charter on Local Self-Governance" reagiert. Ab 2000 seien EU-Gelder zur Verfügung gestellt worden, um diesen Anpassungsprozeß zu unterstützen, die Zuständigkeiten seien vom litauischen Innenministerium zum Finanzministerium übertragen worden. Aus dem hier Geschilderten ist zu entnehmen, dass die Aufmerksamkeit der EU zugunsten starker Eigenständigkeit der Regionenn nach dem EU-Beitritt 2004 stark nachließ: danach sei es vielfach ausreichend gewesen, wenn die EU-Gelder, die für die litauischen Regionen gedacht waren, direkt der Zentralregierung zukommen. Diese rechtfertigte dann zum Beispiel Wirtschaftsförderung in den Regionen als "Regionalpolitik" - ließ dabei die Mitbestimmung von Bezirken und Gemeinden dabei außen vor. Die nationalen Regierungen - auch in Lettland und Estland - hätten dabei diese Vorgehensweise mit dem schlichten Verweis auf ihre Landesgröße begründet: zu klein, um regional zu differenzieren.

Wie bei vielen anderen Aspekten der Europapolitik ist also auch beim Stichwort der "Regionalpolitik" Vorsicht und genaueres Hinschauen geboten, was hier eigentlich gemeint ist.  Für Litauen bleibt einstweilen nur das unter dem Stichwort "regional = erfolgreich" stehen, was litauischen Europapolitikern dem Land an EU-Fördergeldern gesichtert haben. Zwei Fragezeichen bleiben vorerst: eines bei der Frage, ob diese Gelder auch den litauischen Regionen außerhalb der Städte zu Gute gekommen sind, und ob diese Regionen gegenüber der Regierung zu ihren eigenen Belangen ausreichend Mitsprachrecht haben.

Mehr Geld, weniger EU-Abgeordnete
Litauen hat im Rahmen des gerade frischausgehandelten EU-Haushaltsbudgets 44,5 Milliarden Litas für Litauen ausgehandelt - so vermeldet es der Pressedienst der litauischen Präsidentin und das Portal "euro.lt". Gemäß diesen Angaben wird damit der nach Litauen fließende Anteil des EU-Haushalts künfitg um 10% höher ausfallen. Direktzahlungen an litauische Landwirte sollen sogar um 70% steigen - bis zum Jahr 2020 auf 196 Euros (676 Litas).

Vorerst machen sich litauische EU-Abgeordnete allerdings auch Sorgen darüber, dass ihr Land in Kürze einen Sitz im EU-Parlament verlieren wird (15min.lt). Die neuesten Bevölkerungsstatistiken werden hier herangezogen, und innerhalb der letzten 10 Jahre haben rund eine Halbe Million Litauerinnen und Litauer ihr Land vorläufig oder längerfristig verlassen. Statt 12 werden künftig noch 11 litauische EU-Abgeordnete darüber nachdenken können, wie Fördergelder so eingesetzt werden können, dass die eigene Bevölkerung vor Ort auch etwas davon hat.

16 Februar 2013

Die Steuernsuchmaschine

Einigen Medienberichten zufolge beabsichtigt die litauische Steuerbehörde, den Service von Google-Streetview in Anspruch zu nehmen um Steuersündern auf die Spur zu kommen (AFP, Die Presse, Die Zeit). Im Grunde eine Kurzfassung von litauischen Presseberichten (z.B. Delfi.lt, Lietuvos Rytas), ohne aber Inhalte der Diskussion in Litauen ebenfalls wiederzugeben. Also reales Vorhaben, oder vielleicht nur ein wirksame öffentliche Drohung, die auch ohne wirkliche Realisierung abschreckend wirkt? Eine Werbemaßnahme der Behörden in eigener Sache, um möglichst modern zu wirken? Oder nur eine häufig abgeschriebene, ziemlich kurz geratene und nachgedruckte Pressemeldung?

Während den einen das Vorhaben wohl schon aus prinzipiellen Gründen des Datenschutzes supekt erscheint, wittern die anderen eine Förderung des Denunziantentums, möglicherweise sogar noch in Beamtenstatus. Artūras Klerauskas, einer der obersten Beamten der litauischen Steuerbehörde, gibt schon praktische Tipps und geht noch über Streetview hinaus: "Viele haben ja ein Smartphone, und ob wir Steuerbetrügern nun durch Streetview, durch einen Anruf oder ein uns zugesandte Foto entdecken - wir gehen jedem Fall nach." (LRytas) Oder gar nur ein Werbetrick von Google selbst - die Streetview in Litauen erst seit 2 Wochen anbietet und mit schönen Schlagzeilen darauf aufmerksam machen möchte?

Wer sich zum Beispiel Vilnius per Streetview anschaut wird festellen dass es dort auch bereits einige "verpixelte" (unkenntlich gemachte) Stellen und Häuser gibt.
Ausblick für Litauen: Aha! Schöne Villa, frisch renoviert: schon Steuern gezahlt, Herr Anonymičius?
Oder sollte man das Thema einfach mal fantasievoller angehen? Statt auf Hausbesetzer zu warten, Besitzer von mutwillig leerstehenden und ungenutzten Häusern abmahnen? Würde sich die öffentliche Meinung ändern, wenn nicht die "kleinen Leute" angeblich im Visier der unbeliebtesten aller Behörden wäre, sondern die angeblich "dicken Fische"?
Was haben die litauischen Behörden eigentlich bisher gemacht, bevor Street View ihnen eine so bequeme Recherchemöglichkeit gab? Vielleicht träumt da jemand von Dienstwagen mit (gesponserter) Google-Kamera auf dem Dach? Näheres dazu ist leider bisher wenig nachzulesen - die Schlagzeile reicht.

24 Januar 2013

Sozialdemokraten zurück an der Macht

Litauen hat im Oktober 2012 ein neues Parlament gewählt und eine neue Regierung kam im November ins Amt. Die Sozialdemokraten, die einst aus den gewendeten Kommunisten hervorgingen, übernehmen das Ruder von den Konservativen, die aus der Oppositionsbewegung Sąjūdis entstanden waren. Ministerpräsident ist Algirdas Butkevičius mit der Unterstützung von 90 von 14r1 Abgeordneten im Seimas. Seit der Unabhängigkeit 1991 bleibt es somit dabei, daß sich im wesentlichen diese beiden politischen Kräfte an der Macht abwechseln.
Seit den Wahlen im Jahre 2000 gibt es allerdings auch noch eine Reihe von anderen nicht unbedeutenden Parteien, zu denen die Partei Recht und Ordnung gehören, die der vormalige und in einem Impeachment abgesetzte Präsident Rolandas Paksas gegründet hatte wie auch die Partei der Arbeit des russischen Reichen Viktor Uspaskich, der aus Litauen zwischenzeitlich vor juristischer Verfolgung geflohen war. Beide Personen verbindet, daß Paksas Uspaskich, wie später von Gerichten festegestellt, die Staatsbürgerschaft Litauens unrechtmäßig zugeschachert hatte.
Algirdas Butkevičius wollte nun nach der Wahl eine Regierung mit genau diesen Partnern bilden. Man war sich zügig einig. Doch die aus dem konservativen Lager stammende Präsidentin Dailia Grybauskaitė legte zunächst Widerspruch ein und wollte eine Koalition unter Beteiligung von Uspaskich und seiner Arbeitspartei nicht akzeptieren. Sie konnte als einstweilen noch sehr populäre Politikern – die in Litauen auch durch eine Volkswahl ins Amt gekommen ist – eine guten Teil der Bevölkerung hinter sich wissen. Grybauskaitė mußte schließlich den Mehrheitsverhältnissen im Parlament nachgeben.