29 Oktober 2020

Frauen nach vorn?

Ingrida, Viktorija und Aušrinė (LRT.LT)
Auf den ersten Blick sehen die neuen Leitfiguren der litauischen Politik eindeutig weiblich aus: Ingrida Šimonytė (TS-LKD), Viktorija Čmilytė-Nielsen (Liberale), Aušrinė Armonaitė (Laisvės partija / Freiheitspartei). 

Čmilytė, als erfolgreiche Schachspielerin, Armonaitė, die "Sport und Abenteuer" als Hobbies angibt, und Šimonytė, Ex-Finanzministerin, die 2019 bei der Präsidentschaftwahl dem jetzigen Amtsinhaber Nauseda nur knapp unterlag. 

Litauen also als "freiheitliches Vorbild", so wie es "Die Welt" noch kurz vor der Wahl herausstellte (dabei aber mehr über Belarus berichtete als über Litauen)? Angeblich soll Ingrida Simonyte auch bereits "mehr Frauen in der Regierung" angekündigt haben (tekk).

Das Wahlergebnis: knappe Mehrheit für
"Vaterland-liberag-freiheit"
(LRT)
Sogar das "Greenpeace-Magazin" berichtet über "litauische Männer als Verlierer": der bisherige Außenminister Linkevičius, immerhin seit Dezember 2012 im Amt, muss sich nicht nur einen neuen Job suchen, sondern hat wohl auch kein Mandat im litauischen Parlament (Seimas). Erst kürzlich hatte Linkevičius sich energisch für eine stärkere Unterstützung der Opposition in Belarus eingesetzt (DWWelt)

Wahlergebnis: Gewählt Abgeordete

20 Oktober 2020

Ein Blick in die litauische politische Küche vor der zweiten Wahlrunde

 Zwei Parteien mit dem Wort "Grün" im Namen, drei "christliche", drei mit "Freiheit" oder "Liberal", drei "sozialdemokratische" oder "Arbeits-" Parteien. 17 Parteien traten zur Parlamentswahl 2020 an, von denen es 6 in der ersten Runde der Parlamentwahl in den Seimas geschafft haben, also über die 5%-Hürde gekommen sind. Vor der zweiten Runde der Parlamentswahl in Litauen werfen wir einen Blick in die litauische Politik-Küche. 

Es war einmal ... so beginnen Märchen ... Und in Litauen, vor langer, langer Zeit, im Jahre 1992, da gab es die "Litauische Demokratische Arbeitspartei". Die heißt in der Zwischenzeit "Sozialdemokratische Partei". Eine "Arbeitspartei" gibt es auch. Die wurde aber erst 2003 gegründet und hat mit der alten Partei nur den Namen gemein ...

Algirdas Brauzauskas (gestorben 2010) war der Übervater der Postkommunistischen Linken /
Vytautas Landsbergis der Rechten (heute 88 Jahre und sitzt im Europaparlament)

Also früher, nach der Litauischen Unabhängigkeit 1990, da wollte man gar wie der Westen sein: Es gab zwei Blöcke: Links die ehemalige kommunistische Partei (eben die Arbeitspartei) unter Algirdas M. Brazauskas und rechts die Unabhängigkeitsbewegung Sąjūdis unter Vytautas V. Landsbergis. Darum herum einen Haufen anderer Parteien, von denen viele entweder an die litauischen Vorkriegsparteien anknüpfen wollten oder gleich ihre Ideen aus dem Westen namen: Sozialdemokraten, Christdemokraten, Nationalisten, sogar eine Grüne Partei gab es. Und zwischen rechts und links gab es passenderweise die Zentrumsunion. 

30 Jahre später ... 

Im Jahre 2020 heißt der  rechtskonservative Block jetzt "Vaterlandsunion - Christdemokratische Partei" und Parteiführer ist wieder ein Landsbergis - Gabrielius Landsbergis, der Enkel (!) des Führer der damaligen Unabhängigkeitsbewegung. Was für deutsche Ohren vielleicht positiv klingt, aber für viele Litauer hat der Name Landsbergis keinen guten Klang: der wirtschaftliche Abschwung, Arbeitslosigkeit und Armut nach der Unabhängigkeit, die wilde Privatisierung und Kriminalität der 1990er Jahre, Renten- und Lohnkürzungen in den Wirtschaftskrisen 1999 und 2009, all das wird mit den Konservativen und mit dem Namen "Landsbergis" und der "Vaterlandsunion" verbunden . 
Mir scheinen die Konservativen in Litauen in einer ähnlichen Lage wie die Sozialdemokraten in Deutschland: Immer wenn es schwierig ist, sind sie an der Macht und müssen harte Reformen durchführen. Das meistern sie zwar, aber beliebt machen sie sich dadurch der nicht.

Gintautas Paluckas - Vorsitzender der Sozialdemokraten,
Ingrida Šimonyte - Spitzenkandidatin der Konservativen und wahrscheinlich nächste Premierministerin,
Gabrielus Landsbergis - Vorsitzender der "Vaterlandsunion",
Ramunas Karbauskis - Vorsitzender der "Union der Bauern und Grünen


  Auf der linken Seite ist es noch schwieriger: Auch in Litauen ist die Sozialdemokratie in einer großen Krise. Vereint war sie, solange ihre Übervater, Algirdas Mykolas Brazauskas, sie führte. Aber der starb 2010 und nach einigem auf und ab wurde in der Zwischenzeit ein junger Politologe, Gintautas Paluckas, Parteichef. Und tut sich schwer, linke Themen wie soziale Ungleichheit in den Diskurs zu bringen und die einstmal große Partei öffentlich sichtbar zu machen. Lange haftete der Ruf an, die Partei der alten "Bonzen" zu sein. Viele - zumal ältere - Parlamentsabgeordnete - sind überzeugte Jäger und so kam die Partei zu ihrem Spitznamen: "die Biber". An der Frage, ob man in der Regierung mit der Bauernpartei blieben sollte, hat sich die Partei gespalten. Jetzt gibt es eine neue Sozialdemokratische Arbeiterpartei, in der ehemaligen Parteikader sitzen, die ihre Ministerposten behalten wollten. Da sie bis jetzt bei allen Wahlen durchfiel (bei 2-3 % blieb) scheint diese Partei aber keine Zukunft zu haben.

Und jetzt wird's unklar:

Und auch links verordnen könnte man die Arbeitspartei des russsisch stämmigen Millionärs Viktor Uspaskich. Zu ihren Hauptthemen gehören die Erhöhung der Löhne. Gegründet wurde sie von Millionären - ein  mir  bekannter Parlamentsabgeordneter hatte sich einst für eine Mitgliedschaft interessiert, aber ihm war's zu teuer. Im Europaparlament ist sie der Liberalen Fraktion (ALDE) angeschlossen. Ihre Wähler findet sie eher auf dem Lande, in Kleinstädten, unter der russischen Minderheit. Sie ködert ihre Wähler mit Gehaltserhöhung und diversen Wahl-Geschenken, ihr Programm ist aber eher liberal, also für Steuersenkungen und Wirtschaftsförderung. Die Idee dabei: Wirtschaftliches Wachstum führt zu mehr Steuereinnahmen führt zu mehr Umverteilung.

Die "Union der Bauern und Grünen": klingt komisch, oder? Die Partei beruft sich auf eine Volkspartei der Vorkriegszeit und suchte lange nach sich selbst - bis zum Erdrutsch artigem Sieg bei der Parlamentswahl 2016. Sie selber bezeichenen sich als "von Ideen getragen". Aber so richtig konkret werden sie nicht. Der Partei wird von Ramunas Karbauskis geführt, einem der reichsten Männer Litauens, die Familie ist groß im Agrarbusiness. Er schafft es immer wieder, bekannte Menschen für diverse Ideen zu gewinnen: Mit dem bekanntesten litauischen Popmusiker Andrius Mamontovas machte ein Projekt mit kostenlosen Kinderbüchern, mit einem berühmten Designer kostenlose Volkstrachten für Kinder, und in der Politik wirkt er wie ein Magnet: Mal anziehend, mal abstoßend. Karbauskis selbst zählt zu den unbeliebesten Politikern in Litauen. Inhaltlich wird die Partei eher als "Verbotspartei" gesehen: Zuerst ging es um die Beschränkung des Alkoholverkaufs, dann wurden staatliche Apotheken geplant. Und schließlich kam noch Corona dazu. Von vielen anderen großen Plänen aus der Anfangszeit der Regierung wie der Zusammenlegung der Universitäten, dem Umzug von Ministerien nach Kaunas, der Verkleinerung des Parlaments hört man jetzt nichts mehr. Stattdessen wird Geld verteilt: Erhöhung des Mindestlohn, Erhöhung der Renten, Erhöhung des Kindergeldes... 

Sowohl Sozialdemokraten als auch Arbeiter- und Bauernpartei wildern im gleichen Wâhler-Revier, aber dazu etwas später...

Und dabei sieht es so aus, dass die konservative Vaterlandsunion die Wahl gewinnt, die Schulden der Vorgängerregierungen abbezahlen darf und sich mit einem Sparkurs - wieder mal - unbeleibt machen wird.  

Die Mitte

Es war einmal eine "Zentrumsunion". Die gibt es immer noch, doch in der Zwischenzeit wurde die von "völkisch-nationalen" (Tautininkai) übernommen. Klingt schlimmer als es ist und die Partei ist politisch unbedeutend. 

Bedeutend sich hingegen die zwei liberalen Parteien - der Liberale Aufbruch und die Freiheitspartei - welche  bei der ersten Runde der Parlamentswahl 2020 zusammen genommen auf überraschende 15% kamen. 

Der alteingesessene "Liberale Aufbruch" bezeichnet sich selbst als "Agro-Liberale". Er ist am stärksten in der litauischen Hafenstadt Klaipėda und in einigen ländlichen Gegenden im Westen.

Inhaltliche geht es natürlich besonders um "Steuern runter", Eigenverantwortung und um Investitionen in Bildung und Innovationen.

Die erst 2019 gegründete Freiheitspartei hingegen wird vor allem mit zwei Themen assoziert: LGBT und der Legalisierung von Marihuana. Niemand hielt es möglich, dass man damit Wahlen gewinnen kann. Natürlich ist es viel komplexer, aber von 12 Direktkandidaten, welche die Partei in der zweite Wahlrunde schickt, sind 9 in Vilnius, 1 in Kaunas, 1 dazwischen (Elektrenai -Kaišiadorys) und 1 im neuen Wahlkreis für Auslandslitauer. Die Vorsitzende Aušrinė Armonaitė ist eine junge immer lächelnde Parlamentsgeordnete. Und obwohl die Partei gerade Mal ein Jahr alt ist, kann sie schon etwas vorweisen: mit Remigijus Šimašius stellt sie den Bürgermeister von Vilnius, der Litauischen Hauptstadt. Eine Stadt, in der gefühlt überall gebaut wird und die voller positiver Energie wächst. Andererseits verschärft sich allerdings der Kontrast zwischen Hauptstadt und dem Rest des Landes.

Hier geht es um eine junge, urbane Elite, Kommentatoren beschrieben die Partei deshalb als  "aufmüpfischer Jugendlicher". Umfragen zufolge können die liberalen Parteien bis zu 29% bei den Wählern unter zwischen 18 und 24 Jahren verbuchen. 

 

Tomas Raskevičius von der "Freiheitspartei" ist der einzige offene auftretene "Transgender"-Politiker in Litauen


Das Führerprinzip ...

Wer aufgepasst hat, der hat vielleicht gemerkt, dass ich immer Namen aufführe, die mit der Partei verbunden werden. Und dass ist ganz wichtig: In der Politik geht es stark um Sympathien und Antipathien. Wer ist also ein "guter" und wer ein "böser" Mann (oder Frau). Die jeweiligen Parteimitglieder und -Wählen schwören auf ihren Führer (oder Führerin), sowas wie innerparteiliche Demokratie oder Kritik sind selten. Laute Kritik führt zur Gründung einer neuen Partei. letzte größere Neugründungen die erfolglose Sozialdemokratische Arbeitspartei und die erfolgreiche Freiheitspartei. Längerfristig nicht erfolgreiche Parteien fusionieren oft.

In Wahlen geht es oft nicht darum für wen wir wählen, sondern auch gegen wen.

Hier also eine aktuelle Bewertung von wichtigen Persönlichkeiten des Öffentlichen Lebens von Anfang September 2020. Orange hervorgehoben Politiker mit einer leicht schlechten Bewertung (>20%), rot die ganz schlechten (>35% negativ). Quelle: Forschungsinstitut Vilmorus für die Tageszeitung "Lietuvos Rytas -  http://www.vilmorus.lt/index.php?mact=News,cntnt01,detail,0&cntnt01articleid=4&cntnt01returnid=20=)


Name Positive            Negative 

                Bewertung  Bewertung Anmerkung

                            %        %

G. Nausėda     65 13 Staatpräsident

L. Linkevičius     51 18 Außenminister, Sozialdemokratische Arbeitspartei

S. Skvernelis     47 28 Premierminister für die Bauernunion

V. Pranckietis     44 21 Parlamentspräsident, hat sich mit der Bauernpartei überworfen und ist jetzt beim Liberalen Aufbruch

V. Matijošaitis     43 23 Bürgermeister von Kaunas, parteilos, unterstützt aber die Bauernpartei

G. Paluckas     34 24 Parteivorsitzender der Sozialdemokraten

V. Uspaskich     33 37 Parteivorsitzender der Arbeitspartei

V. Čmilytė-Nielsen 33 17 Parteivorsitzende des Liberalen Aufbruch

R. Šimašius     32 33 Bürgermeister von Vilnius, Freiheitspartei

A. Veryga     30 45 Gesundheitsminister, Bauernpartei

R. Karbauskis     29 50 Parteivorsitzender der Union der Bauern und Grünen

G. Grušas     25 13 Erzbischof von Vilnius (!)

G. Landsbergis    25 52 Parteivorsitzender der Vaterlandsunion-Christdemokraten

A. Armonaitė     23 26 Parteivorsitzende der Freiheitspartei

V. Tomaševski     12 51 Führer der Polnischen Wahlaktion


Die eindeutig unbeliebtesten Politiker sind Landsbergis, Tomaševski und Karbauskis. Im Mittelfeld finden wir Uspaskich, aber auch die Führer der Freiheitspartei. Obwohl die Freiheitspartei in Vilnius sehr beliebt ist - das Thema LGBT ist der Punkt, an dem sich die Gegner vereinen. 
Der Wahlerfolg der "Grünen Bauern" 2016 resultierte unter anderem darauf, dass eben nicht Parteivorsitzender Karbauskis Spitzenkandidat war. sondern der damals parteilose Saulius Skvernelis. Und dieses Mal tritt nicht der unbeliebte Landsbergis für die Konservativen an, sondern Ingrida Šimonytė, die bei den Präsidentschaftswahlen letztes Jahr auf den achtsamen zweiten Platz noch vor Svernelis kam.  


Die Sache mit den Überläufern ...

Und dann war da noch die Frage, wie die "Union der Bauern und Grünen" eigentlich zu ihren Namen kamen? Eine "Grüne Partei" gibt es auch noch, sie dümpelt bei Wahlen so bei 2-3%. Unter dem Vorsitzenden Linas Balsys gab es Streit darüber, ob man bei Wahlen mit einer anderen Partei zusammen antreten sollte. Als Resultat wechselten einige grüne Aktivisten zu der damaligen "Volks- und Bauernpartei", die darauf ihren Namen in "Union der Bauern und Grünen" änderte. Parteivorsitzender Ramunas Karbauskis sagte dazu: "Das grün steht in unserem Namen für die Stadtbevölkerung, die für eine 'Bauernpartei' kaum ihre Stimme abgeben würde". 

Und jetzt kommt's: Der damalige Vorsitzende der "echten" Grünen Partei, Linas Balsys, ist in der Zwischenzeit bei den Sozialdemokraten.
Der ehemalige Premierminister und Vorsitzende der Sozialdemokraten, Algirdas Butkevičius, kanditatiert dieses mal für die  "echte" Grüne Partei in seinem Heimatwahlkreis Vilkaviškis im Westen Litauens. Und die Chancen stehen gut, dass er wiedergewählt wird. Der Kandidat ist wichtiger als die Partei. 
Der ehemalige Umweltminister Kęstutis Navickas, der als ehemaliger Leiter des "Baltischen Umweltforums" wohl als einziger Umweltschützer bezeichnet werden kann, der je Umweltminister war, ist in der Zwischenzeit bei der konservativen Vaterlandsunion. Er war parteiloser Minister in der Regierung der "Grünen Bauern".
Und ein letztes Beispiel: Mindaugas Puidokas trat als jüngster Kandidat zu letzten Präsidentschaftwahl an. Er kam ins Parlament mit den "Grünen Bauern" und versucht es dieses Mal mit der "Arbeitspartei".

Parteien hängen im wesentlichen von ihrer Führungsriege ab, Wahlprogramme können besonders bei den Populistischen Partei wie den Grünen Bauern und der Arbeitspartei von Wahl zu Wahl sehr verschieden aussehen und hängen davon ob, wer daran mitgearbeitet hat. Wenn also Kęstutis Navickas jetzt bei den Konservativen ist, wird die Partei plötzlich "grün". Und wer die litauische Variante des "Wahl-O-Mat" auf manobalsas.lt ("meine Stimme") macht, wird auch feststellen, dass die Grüne Partei den Konservativen nahe steht.


Rinks und Lechts kann man nicht verwechseln, oder?

Überhaupt, was jetzt eigentlich "rechts" und "links", "konservativ" und "progressiv"?

In postkommunistischen Ländern heißt "Bewahrung" oft der Erhalt von sozialistischen Errungenschaften: Da geht es um Kindergartenplätze, Krankenhäuser, Schulen, Mindestlohn und Renten. Und dafür, dass alles so bleibt wie es ist und nur finanziell besser wird, stehen eher linke und populistische Parteien, also sind die Linken die Konservativen im Sinne des Wortes: "Bewahrer". Außerdem findet man Anhänger dieser Parteien stärker in ländlichen Gegenden und Kleinstädten, weniger allerdings in größeren Städten. Die größeren Städte sind eher eine Domäne der Konservativen oder Liberalen.

Die Konservativen (und teilweise die Liberalen) sind es, die immer wieder Reformen anpacken müssen und zum Sparen auffordern (In Deutschland sind die bekanntesten "Spar"minister  interessanterweise Sozialdemokraten gewesen: Hans Eichel ("Spar-Hans") und Scholz ("Schwarze Null").  

Ähnlich ist es bei der Altersschichtung: Ältere Wähler tendieren eher zu links populistischen Parteien. Ich sehe da eine verdeckte "Sowjetnostalgie", da es offene Sympathien zu Russland in Litauen nicht gibt. Aber weit verbreitet ist der Wunsch nach einem starken Führer, "der mal durchgreift". 

Es sei denn, man ist ein radikaler Verteidiger des litauischen Staates gegen alle äußeren Feinde. Dann findet man sich am besten bei der konservativen Vaterlandunion wieder, in die auch der Verband der politisch Vertriebenen und Gefolterten (des Kommunismus) aufgegangen ist. 

Überhaupt besteht die Vaterlandsunion aus zwei Hauptflügeln: Den "Staats tragenden" (Valstybininkai), eher älteren, die sich als Verteidiger der Unabhängigkeit und traditioneller Werte - pro-Nato, Familie - sehen auf der einen Seite und einen eher jungen, liberalen Flügel auf der anderen Seite. Von ehemaligen Vilniusser Bürgermeisterkanditat Mykolas Majauskas finde ich regelmäßig Informationen über seine Bestrebungen für die Legalisierung von Kanabis für medizinische Zwecke in meinem Briefkasten. Bei den Konservativen finden sich am ehesten katholische Familien (und über 80% der Litauer sind römisch-katholisch) wieder, denen die Freiheitspartei zu schrill ist.

Das Thema "Bildung" wiederrum scheint eines der wichtigsten bei den Liberalen. Sie glauben am ehesten, dass technische Innovation alle Probleme löst.

Und da sind wir auch schon bei einem wichtigen weltweitem Thema: den Klimawandel. "Grüne" programmatische Inhalte gibt es bei den Liberalen (die sich eher als "Vernunftpartei" sehen), bei den Konservativen und auch in den Sozialdemokraten gibt es eine grüne Fraktion. Darüber hinaus haben die Konservativen das Thema Astrawetz gekapert: sie protestieren am lautstarksten gegen das neue grenznah gelegene belarussische Atomkraftwerk  - als Gefahr für die nationale Sicherheit Litauens. 

Bei der Partei der "Grünen und Bauern" kommen diese Themen im 2020er Wahlprogramm so gut wie gar nicht vor.

Was wir auch sehen: Litauen ist der Nabel der Welt. Im Wahlkampf domieren innenpolitische Themen: soziale Verteilung, Gesundheitswesen, Bildung. 

Klimawandel? US-Wahlkampf? Nee... 

Corona? Gute Frage: da sich die Regierung da wacker geschlagen hat, kann niemand wirklich daraus Profit schlagen. Man kann natürlich sagen, man könnte es besser machen, aber wenn es im Allgemeinen gut läuft - nach Einschätzung der WHO gehörte Litauen zu den 5 Ländern weltweit, die die Pandemie am besten meistern - hat das Argument keine Kraft. Außerdem gehört Litauen zu den Ländern in Europa in denen die Folgen der CoViD-Krise bis jetzt wirtschaftlich am wenigsten zu spüren sind. Kleine Skandale gab es auf Seiten sowohl von Regierung als auch Opposition: die Regierung hat zu viel Geld für Schnelltests aufgegeben, die Stadt Vilnius (regiert von der Oppositionellen Freiheitspartei) zuviel für Lungenventilatoren.

Belarus? Nach der Präsidentschaftswahlen in Belarus schwappte eine Solidaritätswelle für die Demokratiebewegung durch Litauen: Viele Mitglieder der Protestwegung und Lukaschenko-müde fanden Exil in Vilnius, zum Jahrestag des "Baltischen Wegs" gab es eine Menschenkette von Vilnius mit zur belarussischen Grenze mit 50.000 Menschen, wochenlang wurde vor der Botschaft von Belarus protestiert. 

Prinzipiell hilft der harte Kurs gegen Lukašenko eher  den Konservativen, die schon immer pro- NATO und Anti-Russland waren. Und für die Freiheitspartei, da alle Proteste in Vilnius stattfinden. Außerhalb von Vilnius in Ostlitauen ist Belarus aber "weit weg" und die Alltagsprobleme sind wichtiger. 

Zum Abschluss nocht ein paar Worte zur regionalen Verteilung: Der Liberale Aufbruch hat seine Hochburgen in Westlitauen, vor allem in der Hafenstadt Klaipėda und in einigen ländlichen Gegenden. Hochburgen der "Grünen Bauern" liegen eher im Norden: Parteivorsitzender Karbauskis kommt aus dem Dorf Naisiai in der Nähe von Šiauliai, dass für seine Anhänger zu einer Pilgerstädte geworden ist. Die Freiheitspartei in vor allem in Vilnius vertreten - aber in Vilnius lebt rund 1/3 der Einwohner Litauens. Die Sozialdemokratie ist eher stark in einem ländlichen Gürtel in Zentrallitauen.

Die einzige Partei, die über eine funktionierende landesweite Struktur verfügt, das ist die Vaterlandsunion ...

Fazit und Ausblick

Litauische Politik funktioniert weniger nach Inhalten, sondern nach einem "Wohlfühlfaktor": Welchem Kandidat vertraue ich persönlich am meisten, wen kann ich nicht ausstehen? Die meisten Parteien haben ihren regionalen Hochburgen. Ländliche Regionen sind eher links und populistisch orientiert, Städte eher konservativ und liberal. Bezeichnenderweise konkurrieren in der Zweiten Wahlrunde viele konservative und liberale Kandidaten um einen Sitz im Parlament. Wenn sich der Trend bewahrheitet, wird es eine liberal-konservative Regierung geben. Interessanterweise werden alle drei Parteien bei dieser Wahl von Frauen geführt, während in es in der derzeitigen Regierung keine einzige Frau gibt! Wie geht es mit den Parteien weiter: Werden die beiden liberalen Parteien wieder zusammen finden oder getrennt bleiben? Wie geht es mit den "Grünen Bauern" weiter, wenn sie nicht in der Regierung bleiben? Sollte es eine linke Opposition geben, wie wird das Verhältnis zu den Sozialdemokraten. Die Parteiführer können sich persönlich nicht ausstehen, also müsste es zum Wandel kommen. Die Arbeitspartei sagt zwar, sie will in der Opposition bleiben, Kommentaroren zufolge hat die Partei aber traditionell die Rolle als "Königsmacher" und braucht Zugang zur Macht. 


"Für alle, die Spaß wollen" lächelt die Freiheitspartei 
(wörtlich: "denen, die sich erfreuen wollen")


13 Oktober 2020

Litauen hat gewählt - und klar ist mal wieder gar nix!

Notizen von Sonntag Nacht. So langsam kommen die Ergebnisse der Parlamentwahl, des "Seimas" bei der nationalen Wahlkommission rein ... Am Ende der Nacht gibt es klare Gewinner und Verlierer ...

A) Die Gewinner

Radvilė Morkūnaitė-Mikulėnienė (Vize) 
Ingrida Šimonytė (zukünftige Ministerpräsidentin?)
Gabrielius Landsbergis (Parteivorsitzender der
"Vaterlandsunion- Litauische Christdemokraten") 

Klarer Gewinner der Wahl sind die oppositionellen Konservervativen ("Vaterlandsunion - Litauische Christdemokraten") mit knapp 25%, angeführt von der ehemaligen Präsidentschaftkandidatin und Finanzministerin Ingrida Šimonytė. Ihnen folgt die regierende "Union der Bauern und Grünen" mit 17.5% - Premierminister Saulius Skvernelis führte ihre Liste an. Überraschend auf dem dritten Platz  hat sich die "Arbeitspartei" des russischstämmigen Millionärs und Europaabgeordneten Viktor Uspaskich (9.5%) noch vor die Sozialdemokraten (9,3%) geschoben. 

Die  erste  große Überraschung des Abends war mit 9% der deutliche Sprung der liberalen "Freiheitspartei" über die Fünf-Prozent-Hürde, gefolgt von ihrer "Mutterpartei", der liberalen Union mit  6.8%.

B) Die Verlierer

Die zweite große Überraschung des Abends war, dass die "Polnische Wahlaktion - Union der christlichen Familien" ganz knapp unter fünf Prozent blieb und damit als Fraktion aus dem Parlament fliegt. 

"3 Musketiere" -   nett, aber erfolglos: 
Artūras Paulauskas,
Remigijus Žemaitaitis,
Artūras Zuokas

Alle anderen Unglücklichen waren schon durch Umfragen treffend vorausgesagt: Weder die "Sozialdemokratische Arbeitspartei" unter dem Außenminister Linas Linkevičius, noch die Vereinigung der sogenannten "Drei Musketiere": Artūras Zuokas, Artūras Paulauskas und Remigijus Žemaitaitis in der Partei "Freiheit und Gerechtigheit" haben es in der ersten Runde in den Seimas geschafft.

C) Und warum heißt das jetzt alles nichts?

In Litauen gibt es sowohl eine Listenwahl als auch eine Direktwahl von Abgeordneten in Wahlkreisen:

70 Abgeordete werden nach Liste proportional gewählt und 71 in Wahlkreisen. 

Anders als z.B. in Deutschland wird das aber nicht aufgerechnet.

Also wissen wir bis jetzt nur die prozentuale Verteilung der 70 Sitze.

Und die sieht so aus:
Konservative 23 Mandate
Grüne Bauern 16 Mandate
Arbeitspartei 9 Mandate
Sozialdemokraten 8 Mandate
Freiheitspartei 8 Mandate
Liberale Union 6 Mandate. 

Für eine Regierung braucht man aber die Mehrheit von 71 Sitzen...

Und wie sieht es jetzt mit den anderen 71 Sitzen aus?

In der ersten Wahlrunde konnten nur 3 Kandidaten auf Anhieb die absolute Mehrheit in ihrem Wahlkreis holen, darunter Ingrida Šimonytė für die Konservativen in Vilnius-Antakalnis und 2 Kandidaten der Polnischen Wahlunion.
In alle anderen 68 Wahlkreisen gibt es eine Stichwahl der beiden führenden Kandidaten in 2 Wochen und erst dann werden die Mehrheitsverhältnisse klar sein. Also heißt es im ganzen Land vor Ort präzens zu zeigen. 

(noch) Ministerpräsident
Saulius Skvernelis 
Auch hier hat die "Vaterlandsunion" die größten Chancen: In noch 54 Wahlkreisen gehen konservative Kandidaten in die Stichwahl, davon 26 im Zweikampf mit der regierenden Bauernpartei, 12 mit der Freiheitspartei und 6 mit der Liberalen Union. 
Die "Bauern" kämpfn außer die 26 umstrittenen Sitze mit den Konservativen noch um 6 andere Mandaten, bei der Hälfte sind ihr Hauptkonkurrent die Sozialdemokraten.

Besonders erniedrigend kann es für die Ministerpräsident Saulius Skvernelis werden: Er droht sein Direktmandat in Vilnius gegen die konserverative Gegenkandidatin zu verlieren, die im ersten Wahlgang mehr als doppelt so viele Stimmen einsammeln konnte, also wesentlich bessere Chancen hat im 2. Wahlgang über die 50% zu kommen. 

Aušrinė Armonaitė, Freiheitspartei
Als eine Neuheit gibt es einen Wahlkreis für alle Litauer im Ausland: Hier führt in der ersten Wahlrunde die Parteivorsitzende der Freiheitspartei, Aušrinė Armonaitė, vor der Kandidatin der Konservativen. Die beiden Frauen haben damit den sehr aktiven litauischen Außenminister Linas Linkevičius - ich sah ihn noch im letzten ARD-"Weltspiegel" - auf den dritten Platz verwiesen. 

Ein bisschen politische Kaffeesatzleserei

Auf dem ersten Blick sieht es so aus, dass es eine Mitte-Rechtskoalition aus Vaterlandsunion und Liberalen geben wird. Und dass die künftige Premierministerin Ingrida Šimonytė heißt. Als Mehrheitsbeschaffer könnten wenn nötig die Sozialdemokraten - persönlich kommen die  Parteiführer ganz gut miteinander aus - und eventuell sogar die Arbeitspartei dienen, wobei es mit der letzteren schon politisch mehr ächzt ...
Politische Beobachter sind mit einer solchen Prognose aber seeeehr vorsichtig: schließlich sah es schon 2016 so aus, als ob die Konservativen die damalige sozialdemokratische Regierung ablösen würden. Zu früh gefreut: In einem fast erdrutschartigen Sieg sammelten damals die "Grünen Bauern" die meisten Direktmandate ein und der Vaterlandsunion blieb nur die Oppositionsbank. 
Darstellung von R. Karbauskis als "The Clown"
Darstellung des Vorsitzenden der "Union der Bauern und Grünen", 
Ramunas Karbauskis als Clown
Diesmal will man sich nicht zu früh auf eventuelle Partner festlegen, zumal es eigentlich eine "stille Revolution" gab. Noch vor wenigen Jahren wäre eine "Mitte-links" Koalition von Konservativen, Sozialdemokraten und Arbeitspartei ungedenkbar gewesen. Nun eint sie vielleicht ein gemeinsamer Feind: Ramunas Karbauskis, der Vorsitzende der Grünen Bauern, ist vielen mit seinen politischen Ränkespielen das Hauptübel.

Wahlkampf in Corona-Zeiten

Ach ja, da war ja noch was: Wie laufen eigentlich Wahlen in diesen "nicht normalen" Bedingungen?  Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen und ausgeweiteter Vorabwahlmöglichkeiten sank die Wahlbeteiligung um knapp 3% auf unter 50 Prozent. Inhaltlich spielte die Corona-Pandemie und die desolate Lage des litauischen Gesundheitssystem eine ungeordnete Rolle. Bis vor einigen Monaten gehörte Litauen nach Einschätzung der WHO zu den TOP5 Ländern, die die Pandemie am besten meistern. Frühe und harte Maßnahmen führten zu Neuinfektionszahlen im einstelligen (!) Bereich. 
Das Pandemiemanagement ist wohl der Hauptgrund, warum die Regierungspartei überhaupt so gut abgeschnitten hat. Von allen großmäuligen Plänen wie der Verstaatlichung des Alkoholverkaufs und der Verlegung von Ministerien nach Kaunas ist nicht viel übrig geblieben. Nur die Mindestlöhne wurden kräftig angehoben. 
Wahlwerbung der Arbeitspartei:
Viktor Uspaskich "steht zu seinem Wort"
(und seiner Kandidatin) 


Natürlich viel wegen Covid ein klassischer Straßenwahlkampf aus. Es gab eine scheinbare Dauerberieselung von Diskussionen mit Vertretern aller Parteien im staatlichen Radio und Fernsehen und auch in privaten Medien. In den sozialen Medien (rund 70% aller Litauer sind auf Facebook) fiel mir vor allem die Werbung der Konservativen und der liberalen Parteien auf, in meinem Briefkasten fand ich am ausführlichsten die Programmerklärungen der Arbeitspartei. 
So wurde die Wahl zuallererst als ein Referendum über die Regierung eingestuft. Und da gibt es eine interessante Umkehr: Bei der Wahl 2016 trat die Vaterlandsunion mit einem klaren "Plan für Litauen" an - und verlor, während die Grünen Bauern eher diffus ein "harmonisches Litauen" beschworen - und gewannen. Dieses Mal plädieren die Bauern für ein "weiter so!" und haben Tausende (!) von Seiten  des Regierungsprogramm in ihr Wahlprogramm übernommen, während die Christdemokraten unter dem schwammigen Slogan "Mehr Kraft für Litauen" antreten. Der Zweikampf zwischen Ramunas Karbauskis - dem Vorsitzenden der "Bauernpartei" - und Gabrielijus Landsbergis - dem Vorsitzenden der "Vaterlandsunion" - nahm auch unschöne Züge an: So veröffentlichte Karbauskis in der Auflage von 400.000 Exemplaren ein Journal mit dem Titel "Die Unantastbaren", in dem er alle vermeidlichen wirtschaftlichen Verstrickungen des Landsbergis-Clan wiederkäute. Diese kleine Schlamschlacht der beiden großen Parteien (und ihrer Führer) ist wohl auch der Grund, warum viele Wähler sich anderen Parteien zugewand haben, namentlich der Freiheitspartei als junge, weltoffene Alternative und der Arbeitspartei als eher klassische bildungsfernere Variante.  

Bis zur zweiten Wahlrunde wird wild spekuliert: Wer kann mit wem unter welchen Bedingungen? Da potentielle Koalitionspartner bis dahin in den Wahlkreisen noch Konkurrenten sind, wird man genaues nicht erfahren. Bis sagte nur Aušrinė Armonaitė von der Freiheitspartei, dass eine Koalition mit den Konservativen schwieriger sei, als die meisten denken und Viktor Uspaskich meinte, dass ihm Opposition lieber ist. 

Mehr zu Politik in Litauen diese Woche im Artikel "Ein Einblick in die Litauisch Parteien-Küche 2020"