Notizen von Sonntag Nacht. So langsam kommen die Ergebnisse der Parlamentwahl, des "Seimas" bei der nationalen Wahlkommission rein ... Am Ende der Nacht gibt es klare Gewinner und Verlierer ...
A) Die Gewinner
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Radvilė Morkūnaitė-Mikulėnienė (Vize) Ingrida Šimonytė (zukünftige Ministerpräsidentin?) Gabrielius Landsbergis (Parteivorsitzender der "Vaterlandsunion- Litauische Christdemokraten")
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Klarer Gewinner der Wahl sind die oppositionellen Konservervativen ("Vaterlandsunion - Litauische Christdemokraten") mit knapp 25%, angeführt von der ehemaligen Präsidentschaftkandidatin und Finanzministerin
Ingrida Šimonytė. Ihnen folgt die regierende "Union der Bauern und Grünen" mit 17.5% - Premierminister Saulius Skvernelis führte ihre Liste an. Überraschend auf dem dritten Platz hat sich die "Arbeitspartei" des russischstämmigen Millionärs und Europaabgeordneten Viktor Uspaskich (9.5%) noch vor die Sozialdemokraten (9,3%) geschoben.
Die erste große Überraschung des Abends war mit 9% der deutliche Sprung der liberalen "Freiheitspartei" über die Fünf-Prozent-Hürde, gefolgt von ihrer "Mutterpartei", der liberalen Union mit 6.8%.
B) Die Verlierer
Die zweite große Überraschung des Abends war, dass die "Polnische Wahlaktion - Union der christlichen Familien" ganz knapp unter fünf Prozent blieb und damit als Fraktion aus dem Parlament fliegt.
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"3 Musketiere" - nett, aber erfolglos: Artūras Paulauskas, Remigijus Žemaitaitis, Artūras Zuokas
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Alle anderen Unglücklichen waren schon durch Umfragen treffend vorausgesagt: Weder die "Sozialdemokratische Arbeitspartei" unter dem Außenminister Linas Linkevičius, noch die Vereinigung der sogenannten "Drei Musketiere": Artūras Zuokas, Artūras Paulauskas und Remigijus Žemaitaitis in der Partei "Freiheit und Gerechtigheit" haben es in der ersten Runde in den Seimas geschafft.
C) Und warum heißt das jetzt alles nichts?
In Litauen gibt es sowohl eine Listenwahl als auch eine Direktwahl von Abgeordneten in Wahlkreisen:
70 Abgeordete werden nach Liste proportional gewählt und 71 in Wahlkreisen.
Anders als z.B. in Deutschland wird das aber nicht aufgerechnet.
Also wissen wir bis jetzt nur die prozentuale Verteilung der 70 Sitze.
Und die sieht so aus:
Konservative 23 Mandate
Grüne Bauern 16 Mandate
Arbeitspartei 9 Mandate
Sozialdemokraten 8 Mandate
Freiheitspartei 8 Mandate
Liberale Union 6 Mandate.
Für eine Regierung braucht man aber die Mehrheit von 71 Sitzen...
Und wie sieht es jetzt mit den anderen 71 Sitzen aus?
In der ersten Wahlrunde konnten nur 3 Kandidaten auf Anhieb die absolute Mehrheit in ihrem Wahlkreis holen, darunter Ingrida Šimonytė für die Konservativen in Vilnius-Antakalnis und 2 Kandidaten der Polnischen Wahlunion.
In alle anderen 68 Wahlkreisen gibt es eine Stichwahl der beiden führenden Kandidaten in 2 Wochen und erst dann werden die Mehrheitsverhältnisse klar sein. Also heißt es im ganzen Land vor Ort präzens zu zeigen.
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(noch) Ministerpräsident Saulius Skvernelis
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Auch hier hat die "Vaterlandsunion" die größten Chancen: In noch 54 Wahlkreisen gehen konservative Kandidaten in die Stichwahl, davon 26 im Zweikampf mit der regierenden Bauernpartei, 12 mit der Freiheitspartei und 6 mit der Liberalen Union.
Die "Bauern" kämpfn außer die 26 umstrittenen Sitze mit den Konservativen noch um 6 andere Mandaten, bei der Hälfte sind ihr Hauptkonkurrent die Sozialdemokraten.
Besonders erniedrigend kann es für die Ministerpräsident Saulius Skvernelis werden: Er droht sein Direktmandat in Vilnius gegen die konserverative Gegenkandidatin zu verlieren, die im ersten Wahlgang mehr als doppelt so viele Stimmen einsammeln konnte, also wesentlich bessere Chancen hat im 2. Wahlgang über die 50% zu kommen.
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Aušrinė Armonaitė, Freiheitspartei
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Als eine Neuheit gibt es einen Wahlkreis für alle Litauer im Ausland: Hier führt in der ersten Wahlrunde die Parteivorsitzende der Freiheitspartei, Aušrinė Armonaitė, vor der Kandidatin der Konservativen. Die beiden Frauen haben damit den sehr aktiven litauischen Außenminister Linas Linkevičius - ich sah ihn noch im letzten ARD-"Weltspiegel" - auf den dritten Platz verwiesen.
Ein bisschen politische Kaffeesatzleserei
Auf dem ersten Blick sieht es so aus, dass es eine Mitte-Rechtskoalition aus Vaterlandsunion und Liberalen geben wird. Und dass die künftige Premierministerin Ingrida Šimonytė heißt. Als Mehrheitsbeschaffer könnten wenn nötig die Sozialdemokraten - persönlich kommen die Parteiführer ganz gut miteinander aus - und eventuell sogar die Arbeitspartei dienen, wobei es mit der letzteren schon politisch mehr ächzt ...
Politische Beobachter sind mit einer solchen Prognose aber seeeehr vorsichtig: schließlich sah es schon 2016 so aus, als ob die Konservativen die damalige sozialdemokratische Regierung ablösen würden. Zu früh gefreut: In einem fast erdrutschartigen Sieg sammelten damals die "Grünen Bauern" die meisten Direktmandate ein und der Vaterlandsunion blieb nur die Oppositionsbank.
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Darstellung des Vorsitzenden der "Union der Bauern und Grünen", Ramunas Karbauskis als Clown |
Diesmal will man sich nicht zu früh auf eventuelle Partner festlegen, zumal es eigentlich eine "stille Revolution" gab. Noch vor wenigen Jahren wäre eine "Mitte-links" Koalition von Konservativen, Sozialdemokraten und Arbeitspartei ungedenkbar gewesen. Nun eint sie vielleicht ein gemeinsamer Feind: Ramunas Karbauskis, der Vorsitzende der Grünen Bauern, ist vielen mit seinen politischen Ränkespielen das Hauptübel.
Wahlkampf in Corona-Zeiten
Ach ja, da war ja noch was: Wie laufen eigentlich Wahlen in diesen "nicht normalen" Bedingungen? Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen und ausgeweiteter Vorabwahlmöglichkeiten sank die Wahlbeteiligung um knapp 3% auf unter 50 Prozent. Inhaltlich spielte die Corona-Pandemie und die desolate Lage des litauischen Gesundheitssystem eine ungeordnete Rolle. Bis vor einigen Monaten gehörte Litauen nach Einschätzung der WHO zu den TOP5 Ländern, die die Pandemie am besten meistern. Frühe und harte Maßnahmen führten zu Neuinfektionszahlen im einstelligen (!) Bereich.
Das Pandemiemanagement ist wohl der Hauptgrund, warum die Regierungspartei überhaupt so gut abgeschnitten hat. Von allen großmäuligen Plänen wie der Verstaatlichung des Alkoholverkaufs und der Verlegung von Ministerien nach Kaunas ist nicht viel übrig geblieben. Nur die Mindestlöhne wurden kräftig angehoben.
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Wahlwerbung der Arbeitspartei: Viktor Uspaskich "steht zu seinem Wort" (und seiner Kandidatin)
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Natürlich viel wegen Covid ein klassischer Straßenwahlkampf aus. Es gab eine scheinbare Dauerberieselung von Diskussionen mit Vertretern aller Parteien im staatlichen Radio und Fernsehen und auch in privaten Medien. In den sozialen Medien (rund 70% aller Litauer sind auf Facebook) fiel mir vor allem die Werbung der Konservativen und der liberalen Parteien auf, in meinem Briefkasten fand ich am ausführlichsten die Programmerklärungen der Arbeitspartei.
So wurde die Wahl zuallererst als ein Referendum über die Regierung eingestuft. Und da gibt es eine interessante Umkehr: Bei der Wahl 2016 trat die Vaterlandsunion mit einem klaren "Plan für Litauen" an - und verlor, während die Grünen Bauern eher diffus ein "harmonisches Litauen" beschworen - und gewannen. Dieses Mal plädieren die Bauern für ein "weiter so!" und haben Tausende (!) von Seiten des Regierungsprogramm in ihr Wahlprogramm übernommen, während die Christdemokraten unter dem schwammigen Slogan "Mehr Kraft für Litauen" antreten. Der Zweikampf zwischen Ramunas Karbauskis - dem Vorsitzenden der "Bauernpartei" - und Gabrielijus Landsbergis - dem Vorsitzenden der "Vaterlandsunion" - nahm auch unschöne Züge an: So veröffentlichte Karbauskis in der Auflage von 400.000 Exemplaren ein Journal mit dem Titel "Die Unantastbaren", in dem er alle vermeidlichen wirtschaftlichen Verstrickungen des Landsbergis-Clan wiederkäute. Diese kleine Schlamschlacht der beiden großen Parteien (und ihrer Führer) ist wohl auch der Grund, warum viele Wähler sich anderen Parteien zugewand haben, namentlich der Freiheitspartei als junge, weltoffene Alternative und der Arbeitspartei als eher klassische bildungsfernere Variante.
Bis zur zweiten Wahlrunde wird wild spekuliert: Wer kann mit wem unter welchen Bedingungen? Da potentielle Koalitionspartner bis dahin in den Wahlkreisen noch Konkurrenten sind, wird man genaues nicht erfahren. Bis sagte nur Aušrinė Armonaitė von der Freiheitspartei, dass eine Koalition mit den Konservativen schwieriger sei, als die meisten denken und Viktor Uspaskich meinte, dass ihm Opposition lieber ist.
Mehr zu Politik in Litauen diese Woche im Artikel "Ein Einblick in die Litauisch Parteien-Küche 2020"
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