09 November 2012

Giedra wer? Litauische Literatur und europäische Kulturpolitik

Ausgezeichnete litauische Literatur - das läßt sich ab sofort über die Werke der Schriftstellerin Giedra Radvilavičiūtė sagen. Die 1960 in Panevėžys geborene Litauerin ist eine der Preisträgerinnen des diesjährigen Literaturpreises der Europäischen Union. Auffällig aber auch, gerade weil die Auszeichnung während der Buchmesse Frankfurt bekannt gegeben wurde, dass keines der Bücher von Radvilavičiūtė bisher ins Deutsche übersetzt worden ist (mit einer kleinen Ausnahme - siehe unten).

Konsequenterweise sind Informationen zu dieser Preisverleihung gleichfalls nur in Englisch verfügbar. "3sat", "Focus" und "Süddeutsche Zeitung" bezeichnen die europäischen Preisträger gar als "Nachwuchsautoren" (ohne ihre Texte gelesen zu haben, offenbar). Nur der Hessische Rundfunk macht es anders, und bezeichnet die EU-Ehrung als "Förderung für kreative Köpfe" - "Nachwuchsautoren" also nur insoweit als die Geehrten über ihr Heimatland hinaus noch nicht sehr bekannt sind. Aber muss aus dem Mangel an Kenntnis über die litauische Preistreägerin geschlossen werden, dass wer sich für die EU-Mitgliedstaaten interessiert, auch als Deutscher nur  in Englisch mit diskutieren kann? (wo doch gerade die Engländer sich als eine der größten Europaskeptiker hervortun). Nein, nichts gegen Englisch, aber es muss schon Ursachen haben, warum nicht mal bei der Eingabe des Namens "Radvilavičiūtė" auf der Webseite der Buchmesse Ergebnisse bringt.

Ein Foto von
der Webseite
"Lietuviškos knygos"
Aber zurück zur Person. Greifen wir zunächst zurück auf Informationen von "Lietuviškos knygos" (Bücher aus Litauen), einer Organisation die besonders in den Jahren rund um den litauischen Buchmessenschwerpunkt 2002 sehr aktiv war, aber leider seit der Wirtschaftskrise 2009 erheblich finanziell zusammengestrichen ist und nunmehr eigentlich nur noch "Zentrum internationaler Kulturprogramme" heißt und eine kleine Abteilung "Bücher" hat. Aber die Inhalte der Webseite wurden offenbar unter dem früheren Namen erhalten, und sagen zu Giedra Radvilavičiūtė Folgendes: "... geboren 1960 in Panevėžys, beendete 1983 das Studium der Lituanistik an der Universität Vilnius und war als Lehrerin am Land tätig. 1986 übersiedelte sie nach Vilnius und arbeitete lange Zeit in verschiedenen Redaktionen. 1994-1997 lebte sie mit ihrer Familie in Chicago; in dieser Zeit gab sie zusammen mit ihrem Mann, dem Sprachwissenschaftler Giedrius Subačius, den Katalog der bis 1882 erschienenen lituanistischen und prussistischen Bücher der Newberry-Bibliothek von Chicago heraus.
Als Autorin von Erzählungen debütierte sie 1986, ihr wirklicher Eintritt in die litauische Literatur begann jedoch 1999, als sie Essays in der Kulturpresse zu veröffentlichen begann. 2002 wurden fünf Essays im Sammelband mehrerer Autoren “Das Sujet zu erschießen” veröffentlicht. 2004 erschien G. Radvilavičiūtės eigene Essaysammlung “Geplante Augenblicke”.
Die Autorin sieht die Welt mit Skepsis, schwarzer Selbstironie und Liebe zu den Menschen; Zufälligkeiten und Kleinigkeiten bekommen in ihren Texten eine existenzielle Bedeutung. Sie gilt als eine der aussichtsreichsten Schriftstellerinnen der zeitgenössischen litauischen Literatur und Verkünderin eines neuen Bewusstseins von Frauen."

Ob an dieser Stelle aktuellere Neuigkeiten jemals ergänzt werden, hängt wohl eher an den Strategien litauischer Kulturpolitik (wer Englisch lesen kann, findet mehr). Immerhin ist auf der gleichen Webseite sogar ein Hinweis auf ein Buch angeführt, dass offenbar nur in Vilnius zu bekommen war und auch ins Deutsche übersetzte Texte enthielt: "Suplanuotos akimirkos (Geplante Augenblicke)". Der scheinbar einfachste Weg der Suche danach, auf der Homepage des angegebenen Verlags ("Baltos Lankos") den Namen der Autorin ins Suchfeld einzugeben, endet wiederum erfolglos - so als ob Radvilavičiūtė selbst dort unbekannt wäre. Dann also vielleicht auf einer Verkaufsseite des Internetbuchhandels? Tatsächlich, Überraschung! Ich finde genau denjenigen Titel, wegen dem Radvilavičiūtė den EU-Literaturpreis bekommen hat: im Ramsch! Nicht mehr als 9,99 Litas (2,89 Euro) muss ausgeben wer das Buch auf Litauisch lesen möchte. Eine Maßnahme zur Popularisierung der besten Werke litauischer Literatur im eigenen Landes? Nein, wohl eher die hektische Suche nach Restexemplaren. "Heute nacht schlafe ich an der Wand" hätte vermutlich eine deutsche Übersetzung verdient - genauso wie mehr litauische Leserinnen und Leser.

"Literatur ist eine der fantastischen Türen zum gegenseitigen Verständnis" - so das EU-Preisverleihungskomitee. Gleichzeitig wird für das EU-Förderprogramm "Creative Europe" für die kommenden Jahre 2014-2020 eine Steigerung der Fördersumme um 37% angekündigt, welche u.a. die Übersetzung von 5000 Büchern fördern und ermöglichen sollen (dazu siehe auch "Die Welt"). Ob darunter dann etwas Litauisches ist, das auch auf dem deutschsprachigen Buchmarkt ankommt, muss abgewartet werden. Vorerst können interessierte Literaturfreunde nur darauf hingewiesen werden, dass es in Österreich zwei interessante Literaturzeitschriften gibt: In "Die Rampe", Heft 2/2009, finden sich die "Geplanten Augenblicke" von Giedra Radvilavičiūtė (dank Cornelius Hell!), und in einem Heft der "Lichtungen" aus dem Jahr 2010 ein Beitrag zu "Die Anziehungskraft eines Textes".
In der "Frankfurter Neuen Presse" ist übrigens eine interessante Kritik am "Europäischen Literaturpreis" nachzulesen. Dort wird die Meinung vertreten, die EU-Kommission habe es "allen recht machen wollen", indem zwar eine Preissumme von 60.000 Euro ausgelobt worden sei, die aber unter 12 Ausgezeichneten aufgeteilt werden muss. Es bleiben also nur noch 5.000 Euro. Die Schlußfolgerung der "Frankfurter Neuen Presse": "So kann man eine Idee per Gerechtigkeitsquote kleinschrumpfen".

Mehr Infos: Zur Preisverleihung "Europäischer Literaturpreis" / Video zur Preisverleihung / Autorinnen-info / "Bücher aus Litauen - Infos in Deutsch" / "Books from Lithuania - Infos in Englisch" / Europäische Kommission / Litauische Pressemeldung zur Preisverleihung / Giedra Radvilavičiūtė im litauischen Fernsehen / 3saat-Pressemeldung über "Nachwuchsautoren" / Kurzkritik "Frankfurter Neue Presse" / Hessischer Rundfunk / Literaturzeitschrift "Die Rampe"  / "Lichtungen"