02 März 2022

Zeitenwende - in Deutschland und Litauen

Proteste vor der russischen Botschaft in Vilnius
Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine hat es uns überdeutlich gezeigt: etwas ist anders geworden. Wahrscheinlich ist die These einer "Zeitenwende" richtig - und die aktuell drängende Sorge um das Schicksal der Menschen in der Ukraine legt nahe zu sagen: jetzt wirkt alles Nachdenken über mögliche Fehler der Vergangenheit sinnlos. Jetzt ist alles anders. Gegenüber jemand, der keinen sachlichen Argumenten mehr zugänglich erscheint, der systematisch betrügt und auch Andersdenkende im eigenen Land gezielt ausschaltet - vor diesem Hintergrund sind wir gezwungen, uns von einigen Träumen zu verabschieden: von denen, dass Pazifismus Vorrang vor allem Waffengebrauch und Waffenproduktion haben könnte, und von der Absicht, Frieden in Europa nur mit gutem Willen erreichen zu können. 

Dass der Umgang zwischen Litauen und Deutschland anders geworden ist, zeigt schon der Satz des litauischen Präsidenten Gitanas Nausėda vom 10. Februar 2022: "Litauen betrachtet Deutschland als zuverlässigen strategischen Partner".
Hatten wir es bisher nicht zumeist anders herum verstanden? Als 2004 Litauen der EU beitrat - was werden die Litauerinnen und Litauer wollen? Viele Deutsche zögerten nicht, auf diese Frage mit "unser Geld" zu antworten.

Bei der Überlegung, was für die Zusammenarbeit zwischen Litauen und Deutschland bisher an erster Stelle stand, können wir zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Das Auswärtige Amt zum Beispiel nennt bisher an erster Stelle die Städte Šilute und Klaipeda, Zitat: "Durch die frühere Zugehörigkeit Kleinlitauens (Memelland) mit den Städten Klaipėda (Memel) und Šilutė (Heydekrug) zum Deutschen Reich besteht eine besondere historische Verbindung zu Deutschland."

In der Werteskala folgen ein 1993 unterzeichnetes Kulturabkommen sowie die Eröffnung eines Goethe-Instituts in Vilnius. Aus deutscher Sicht scheint weiterhin wichtig zu sein, dass es litauenweit einen "Tag der deutschen Sprache" gibt, etwa 60 Städte- und Kreispartnerschaften und ein litauisch-deutschen Kriegsgräberabkommens aus dem Jahr 1996. 

Bedrohung aus dem Osten? - Nein, in diesem Fall
ist es nur Christian, Quartiermeister in Rukla ...

Im litauischen Rukla, wo 2017 "der Startschuss gefallen" war (wie es einige Berichte ausdrückten), führt seitdem die deutsche Bundeswehr ein Nato-Bataillon. Wahrscheinlich müssen heute viele zugeben: der These vom "Vorrücken der NATO nach Osteuropa" haben viele zwar nicht zugestimmt, jedoch die Betongung allen Militärischen erzeugte Unbehagen. Gerne wären wir beim Literaturaustausch, bei gemeinsamen Projekten der Wissenschaft, bei Diskussionen in Goethe-Instituten und bei Sprachkursen (Deutsch in Litauen, Litauisch in Deutschland) geblieben. 

Ich erinnere mich zum Beispiel an den Satz aus dem "German-policy-report", den deutschen Militäreinsatz in Litauen betreffend: "das Land, in dem die deutschen Besatzer ab Ende Juni 1941 gemeinsam mit ihren litauischen Kollaborateuren die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung, wie Historiker berichten, 'rascher, radikaler und vollständiger betrieben' als anderswo im okkupierten Europa." Oder an die Schlagzeile der FAZ: "Deutsche Rüstungsfirmen profitieren von der Ukraine-Krise". An die Wiedereinführung der Wehrpflicht in Litauen 2015 (FAZ). Und auch an den Bericht des Bayrischen Rundfunks vom Januar 2017: "Dass es zu Gefechten kommen werde, halten die Soldaten für unwahrscheinlich. Deshalb ist es auch kein offizieller Auslandseinsatz, sondern wird 'Mission' genannt." (BR).

Militärstrategisch war vom "Schließen der Suwalki-Lücke" die Rede - ein Begriff, der es unter anderem zu einem ausführlichen Wikipedia-Eintrag gebracht hat und von manchen auch als "Achillesferse der NATO" (Focus) oder auch "Nadelöhr nach Westeuropa" (Nordkurier) bezeichnet wird. Oder, wie die NZZ es jetzt aktuell im Hinblick auf Litauen formuliert: die "russische Zange". - Jetzt wurde in Deutschland "für Litauen trainiert" (Mittelbayrische). Und die "Bots" und "Fake-News"-Produzenten fingen ebenfalls an, sich an Rukla "abzuarbeiten". Schon im Februar 2017 war beim litauischen Parlamentspräsidenten eine E-Mail eingegangen, in der deutsche Soldaten beschuldigt wurden, ein litauisches Mädchen vergewaltigt zu haben (Stellungnahme Bundesregierung).
Und CSU-Politiker Brandl wurde mit der Auffassung in Bezug auf Rukla zitiert, "die Truppe sei darauf jedoch nicht eingestellt und auch nicht ausgerüstet" gewesen (Donaukurier). - Nebenbei bemerkt: fast gleichzeitig mit der Entsendung deutscher Truppen nach Litauen gab es im Frühjahr 2017 bei der Buchmesse Leipzig eine große Präsentation Litauens als Gastland. 

Bisher haben wir immer die Buchmessen und Kulturveranstaltungen besucht, nicht die Kasernen. Was wird zukünftig in der Darstellung der Beziehungen zwischen Deutschland und Litauen genannt werden (können)? Wird Rukla zukünftig an einem Schützengraben liegen, hinter dem sich Putin-Russland verschanzt hat? Werden zwischenmenschliche Kontakte, über diesen Schützengraben hinweg, unmöglich werden, und wird in Litauen die Angst regieren, das Regime Putin könnte die militärische Aufrüstungsspirale (die ja mit den deutschen "100 Milliarden" nun in Gang gesetzt ist) noch weiter treiben, und Litauens Unabhängigkeit und Existenzrecht ebenfalls massiv bedrohen? Antworten darauf gibt es derzeit noch keine.

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