20 November 2011

Bücher, Grenzen und ein Fluß

Rasa Miškinytė
Eine Menge Erfahrung als Dokumentarfilmerin bringt die litauische Filmemacherin und Produzentin Rasa Miškinytė in ihre Projekte. Sie gilt als diejenige, die in den vergangenen Jahren am erfolgreichsten damit war, Auslands-Koproduktionen nach Litauen zu holen (siehe ERA-Film). Ob Japan oder Dänemark - Filme werden selten im nationalen Alleingang hergestellt. Dennoch zeigte sich Miškinytė überrascht, als eine Anfrage von Jeremiah Cullinane für ein neues Filmprojekt kam. "Ein Ire? Ich habe mich gefragt: was wissen Menschen in Irland über litauische Geschichte?" so beschrieb sie ihre erste Reaktion als sie von der Idee zu dem Film "Der Bücherschmuggler" hörte.

Gegenwärtig wird der Film als litauischer Beitrag auf einigen internationalen Filmfestivals gezeigt (außer Lübeck auch Vilnius, Belfast, Riga, Tallinn, Kapstadt und Chicago). Jeremiah Cullinane's Filmthemen waren bisher Kriminalgeschichten oder Keltenmythen.
Und die naheliegende Vermutung, Cullinane habe wohl mit einem der vielen litauischen Arbeitsmigranten in Irland Kontakt gehabt, muss auch nicht unbedingt stimmen. Der 1967 geborene Cullinane wuchs bei seinen Eltern in Kanada auf und schloß ein Studium in Paris an. Erst seit 1995 gab es den Einstieg ins Filmbusiness, und nach weiteren Paris-Aufenthalten auch Gastspiele als Theaterregisseur. Seit 2005 ist er Miteigentümer der Filmproduktionsfirma "Planet Korda Pictures" und hat die "Bücherschmuggler" mit produziert.

Kommen wir zur eigentlichen Geschichte. Miškinytė und Cullinane schicken gewissermaßen ihre Alter Egos auf eine Reise durchs Memeldelta: der gälische Poet Gearóid Mac Lochlainn, bekannt durch sein Buch "Stream of Tongues" (Sruth Teangacha), und der litauische Theaterdirektor Albertas Vidžiūnas suchen die Spuren der Bücherschmuggler, die in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhundert den russischen Bann gegen die litauische Sprache überwinden halfen und Gedrucktes von Preußen über den Nemunas brachten. In einer der schönsten Szenen des Films, in dem Mac Lochlainn und Vidžiūnas in einem kleinen Boot nahe der Mündung auf dem Fluß unterwegs sind, versucht es der Litauer dem Iren so zu erklären: "Weißt du, damals war auf der linken Seite Preußen und auf der anderen Seite Russland. Heute ist auf der linken Seite Russland und auf der anderen Seite Litauen."

Albertas und Gearóid auf den Spuren der Bücherträger
Dabei fließt der Film beinahe so gemächlich dahin wie auch der Fluß. Langsam tauchen die beiden zwischen den Wassern wandernden Besucher ein in die Thematik. Sie besuchen eine der Kirchen, in der Antanas Mackevičius tätig war, Schulkinder, die über die Geschichte der Bücherschmuggler lernen, und junge Baumpflanzungen, ein jeder einem der Bücherträger gewidmet. Sie besuchen die Universitätsbibliothek von Vilnius, wo schon die Eingangstür das Thema aufnimmt, und sie nehmen Teil an einem Freilicht-Theaterspiel, mit dem Einwohner der Region Geschichte nachspielen. Dabei wird vielfach darauf geachtet, die auch in den handelnden Personen verkörperte Sprachenvielfalt wiederzuspiegeln, sei es durch Gedichte Mac Lochlainns, oder durch Untertitel: Englisch, Litauisch, Gälisch. 

Dann ein Satz, der aufschreckt: "Wenn Du glaubst, Du könntest mit einer anderen Sprache leben, und trotzdem Litauer bleiben - das ist eine pure Illusion." Ausgeprochen von einem Nachfahren der Bücherschmuggler, hat die Radikalität dieser Aussage offenbar auch das Filmteam überrascht - so jedenfalls die Aussage von Rasa Miškinytė bei den Lübecker Filmtagen. Die Aussage gilt natürlich den Vorfahren, die ein Leben mit einer aufgezwungenen fremden (Herrschafts-)Sprache für nicht erträglich hielten. Aber sofort kommt auch die Problematik des heutigen Litauen in den Sinn, wo Zehntauende zumindest vorläufig lieber die fremde Sprache in Kauf nehmen als eine Zukunft im eigenen Land. Aber nach Auffassung von Miškinytė geht diese Thematik ganz Europa an - nicht nur Russen und Litauer, Iren und Englischsprachige.
Ein Film, der weit entfernt davon ist, ein nationalistisches Monument darstellen zu wollen, sondern der zum genaueren Hinsehen verleiten möchte. So genau, wie es die Verschiedenheit von Kulturen, Sprachen und Mentalitäten nötig haben."Wir haben bringen Bücher mit über die Grenze, möchten Sie sie vielleicht beschlagnahmen?" fragen die beiden Filmakteure den Grenzbeamten an der heutigen russisch-litauischen Grenze scherzhaft. Nein, ganz verschwunden sind Sprachzwänge auch heute noch nicht, gerade an den Grenzlinien zwischen Russland und Europa. Und am Nemunasdelta sind die Erinnerungen an die Bücherträger offenbar, wie der Film zeigt, auch identitätsbildend. In ihrem nächsten Film möchte Rasa Miškinytė den Themen Belorusslands nachspüren - man darf gespannt sein darauf.
Homepage zum Film
Filmtrailer bei YouTube

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