Zu Jahresanfang 2023 gibt es erstaunliche Erkenntnisse beim nördlichen Nachbarn Litauens; in der lettischen Zeitschrift "IR" setzt Journalist Roberts Mencis zu einer Art "Lobeshymne" für Litauen an.
Schon lange bekannt seien ja schon die Argumente, warum Estland weiter entwickelt sei: die Esten hätten eben
schon zu Sowjetzeiten immer finnisches Fernsehen schauen können,
und hätten dann eben weitsichtig die Chancen der
Digitalisierung genutzt.
Nun
aber habe offensichtlich im vergangen Jahrzehnt auch das "Brudervolk" Litauen dem
nördlichen Nachbarland in vielen Punkten den Rang abgelaufen. Das zeige
schon die Hauptstadt: Vilnius wächst, und wird in wenigen Jahren die
Bevölkerungszahlen von Riga wohl übertreffen (Beitrag)
Mencis hat
einige Zahlen zusammengestellt. Eigentlich habe ja die Weltwirtschaftskrise 2009 / 2010 damals Litauen eigentlich noch härter getroffen als Lettland. Aber: seit
damals habe in Litauen stetiges Wirtschaftswachstum begonnen, zuletzt
zwischen 2017 und 2021 jedes Jahr um 4%. Und der Export des
produzierenden Gewerbes, also zum Beispiel Möbel, Mineraldünger, Lebensmittel, Holz und chemische Produkte, der 2010 34% des Warenexports Litauens ausgemacht habe, läge heute bereits bei 50%.
Sogar
die verschiedenen Krisen des vergangenen Jahrzehnts hätten eher dazu
beigetragen, bestehende Absatzmärkte zu erweitern. Nach der russischen
Annexion der Krim veranlassten von Russland verhängte
Handelsbeschränkungen für bestimmte litauische Waren die Hersteller, die
Exportmärkte zu diversifizieren und sich stärker auf die
Produktqualität zu konzentrieren. So sei es litauischen Herstellern wie
z.B. "Vilniaus Baldai" oder der VMG-Gruppe
zum Beispiel gelungen, IKEA zu beliefern und so Litauen zum
viertgrößten Möbelhersteller der Welt zu machen. Und sogar während der
Pandemie gab es gute Beispiele: durch die Beteiligung des Unternehmens "Thermo Fisher Scientific Baltics" (eine Tochtergesellschaft des US-Unternehmens „Thermo Fisher Scientific“) am Impfstoffproduktionsprozess habe sich der Export von chemischen Produkten verzehnfacht. (siehe auch: Invest Lithuania)
Auch das Gesamtvolumen der litauischen Dienstleistungsbranche sei im letzten
Jahrzehnt von rund vier Milliarden Euro auf aktuell fast 13 Milliarden
Euro gewachsen - mehr als die Hälfte davon entfallen auf
Transportdienstleistungen. Bis 2014 war Russland der größte Markt dieser
Branche, dann wurde der Umsatz aber fast vollständig nach Westen
umorientiert, wodurch sich beispielsweise das Unternehmen Girteka Logistics zum größten Straßentransportdienstleister Europas entwickeln
konnte. Allerdings musste Litauen auch bei den Arbeitsbedingungen der Fahrer/innen nachbessern.
"Litauen
hat außerdem viel für die Digitalisierung und die Modernisierung von
Produktionsanlagen getan, und auch der Hafen von Klaipeda hat sich neu
positioniert," sagt Vidmantas Janulevičius, Präsident des Verbandes der litauischen Industrieverbandes. (IR)
So betrug der Frachtumschlag in Klaipeda 2010 noch 31 Millionen Tonnen,
und lag damals in etwa auf dem Niveau des Hafens in Riga. 2021 stieg
die Zahl aber bereits auf 45 Mill. Tonnen, was damit höher liegt als der
Gesamtumsatz der drei größten lettischen Häfen zusammen (2022 dann
etwas beeinträchtigt durch Sanktionen gegen Russland, Belarus und
China).
Janulevičius
meint aus seiner Sicht, Litauen sei es eben gelungen lebensfähige
Industrieunternahmen zu erhalten, während Lettland viel auf
Finanzdienstleistungen setzte und auch zwischenzeitlich Nutzen zog aus
dem "grauen Markt", also halblegalen Investitionen von russischer
Seite."Wir haben auf die Stärkung eines transparenten, auf Recht und
Gesetz basierenden tranparenten Geschäftsumfelds gesetzt," so
Janulevičius. (IR)
Für die Ölraffinerien,
die Möbel- und Mineraldüngerproduktion Litauens sei es seit dem
Zusammenbruch der Sowjetunion leichter gewesen, den Qualitätssprung hin
zu westlichen Produkten zu schaffen, heißt es. Aber in Lettland stellten
große Industrieunternehmen, wie beispielsweise im Elektroniksektor,
ihre Arbeit fast vollständig ein. Da gab es einfach auch die große
Konkurrenz mit Japan oder Korea auf dem Markt.
Pēteris Strautiņš,
Chefökonom bei der Bank "Luminor", schreibt außerdem einer aus
Sowjetzeiten übrig gebliebenen lettischen Elite eine gewisse Rolle bei
der Entwicklung zu. "Da waren einige loyaler gegenüber Moskau als zum
eigenen Staat," meint er (IR).
Nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit sei eine ganze Reihe von
Betrieben von ihrem damals bestehenden Management übernommen worden -
und diese seien eben in Litauen weniger "sowjetisiert" gewesen. Zum
Beispiel habe es Möbelindustrie ja auch in Lettland gegeben - aber diese
sei inzwischen fast völlig verschwunden.

"Die
demografische Struktur Lettlands trug zur Bildung eines politischen
Parteiensystems bei, in dem die ethnische Spaltung zum
bestimmenden Faktor wurde," so so sieht es der lettische Ökonom Edmunds
Krastiņš. "So war hier die Konkurrenz zwischen westlich
orientierten Parteien schwächer als in Litauen und Estland, was zu einer
Machtkonzentration im Kreis enger Interessen führte. Durch die Prägung
der
sowjetischen Besatzung entstand eine gewisse Rhetorik, dass die Zukunft
der
lettischen Wirtschaft eine Brücke zwischen Ost und West sein solle. Das
hat eine ziemlich ausgeprägte Ausrichtung auf Russland geschaffen, im
Gegensatz
zu Estland, das sich an den nordischen Ländern und auch an Litauen
orientiert hat“, sagt Krastiņš.(
IR)
Auch
das gegenwärtige Wachstum der litauischen Hauptstadt Vilnius sehen die
Ökonomen vor diesem Hintergrund. Seit 2018 sei auch die Bilanz der
Arbeitsmigration in Litauen wieder positiv - es kommen mehr nach Litauen
als Menschen ausreisen.
Dennoch, der Satz "die Litauer sind unsere
Brüder" sollte Bestand haben. Als Ex-Ministerpräsident Skvernelis 2019
mal die Bemerkung rausrutschte "die Letten sind nicht Brüder, sondern
Konkurrenten auf verschiedenen Gebieten, besonders der Wirtschaft"
beeilte sich sogar der so Zitierte, das schnell wieder zu korrigieren
(er sei von der Presse verzerrt wiedergegeben worden). Und TV-Journalist
Andrius Tapinas widmete Lettland "zum Trost" eine ganze Ausgabe seiner Show "Laikykites Ten"
("Haltet durch") nach dem Motto: "kümmert euch nicht um Skvernelis, er
noch jung, er muss noch lernen." Aber eine kleine Bitte hat Tapinas, in
aller gebotenen Ironie, denn doch: Litauen habe 99km Küstenlinie; gerne
würde Litauen daraus eine runde Zahl machen - ob Lettland nicht
vielleicht einen Kilometer abgeben könne?