01 August 2011

Europäische Nachhilfestunden

Wer dieser Tage weder Österreicher noch Litauer ist, an dem geht die hitzige Diskussion wohl vorbei. Anfangs schien es hauptsächlich eine Sache von 52 Minuten zu sein - genau diese Zeitspanne lag zwischen der Wieder-Freilassung des Ex-KGB-Mannes und Einsatzleiters der Sondereinheiten der "Schwarzen Barette" von 1991 in Vilnius, Michail Golowatow, und dem Eintreffen der von Litauen geforderten detaillierteren Angaben zu dem auf Golowatow ausgestellten Haftbefehl.

KGB auf Alpenurlaub
Dies geschah am Donnerstag, den 14.Juli. In den darauf folgenden Stunden des herannahenden Wochenendes muss bei vielen Behörden ja mit frühem Feierabend gerechnet werden - so auch hier. Aber wäre das Ergebnis - die Freilassung des kurzfristig Festgehaltenen - ein anderes gewesen, wenn ein paar Stunden oder vielleicht auch ein paar Tage verstrichen wären? Golowatow war - so das österreichische Juristenösterreichisch - in "verfügte Anhaltung" genommen worden, also nicht etwa in Haft. Dass Golowatow gar nicht erst in eine Haftanstalt überstellt wurde, soll die russische Botschaft in Österreich erreicht haben. Angehalten und wieder gehen lassen, das klingt schon sehr noch einem sehr kurzfristigen und gar nicht dringlichen Vorgang. 

Aber wie auch immer: dieser immer noch anhaltende Streit zwischen Litauen und Österreich zeigt interessante Ergebnisse und Schattierungen, und geht weit über die Frage von einer möglichen privaten Schuld Michail Golowatows an den Toten vom Januar 1991 in Vilnuis hinaus. Vielleicht werden später einmal beide Seiten sagen: gut, dass diese Diskussion damals im Juli 2011 wieder aufgebrochen ist. Denn angesichts vieler schöner Reden zur Freundschaft und dem Zusammenhalt der Länder und Völker in Europa zeigen sich hier viele Einzelfragen, die offenbar über längere Zeit ungelöst und unberührt liegen geblieben sind.

Historisches Gedächtnis
Dieses "Infoset" schenkte der litauische Außenminister Ažubalis
seinem österreichischen Amtskollegen Spindelegger
als Antwort auf dessen Erläuterungsversuche im Fall Golowatow
Es gibt ja den schönen Spruch vom "Mantel der Geschichte", den man ergreifen müsse, um im richtigen Moment den Lauf der Ereignisse beeinflussen zu können. Aber so richtig bekannt und im allgemeinen Bewußtsein verwurzelt sind nur die Daten, die auch für Deutschland akzeptabel erschienen (das sich unter Kohl und Kinkel immer als "Anwalt der Balten" bezeichnet hatte). Erst nachdem es im August 1991 einen Putsch gegen den im Westen positiv bewerteten Sowjetführer Gorbatschow gab, wandten sich die Machthaber denen zu, die ihn überwanden und Konsequenzen daraus zogen. Aber was ist mir den Volksbewegungen zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit, die sich schon 1987/88 in den baltischen Staaten gründeten? Selbst in den damals noch bestehenden "Obersten Sowjets" errangen nach und nach diese Volksbewegungen die Mehrheit. Bereits ab dem Februar 1990 hatte die Sympathisanten der im Juni 1988 gegründeten "Sąjūdis" im litauischen Obersten Sowjet die meisten Sitze. Bereits am 23.August 1989 hatte es die gewaltige Menschenkette von Vilnius über Riga nach Tallinn gegeben, so dass in dieser Zeit bereits klar wurde, was die Menschen wollten. Das Oberste sowjetische Gremium (der Oberste Rat) in Litauen wählte Vytautas Landsbergis zu seinem Vorsitzenden. Nur Moskau sträubte sich noch - und zwar ausdrücklich Gorbatschow, der ja an eine innere "Reform" des Systems glaubte, und den baltischen Staaten das Recht auf eigene Entscheidungen abstritt. Am 11.März 1990 erklärte Litauen die Wiederherstellung seiner Unabhängigkeit. Es war also nicht - wie manche österreichische Zeitungen auch heute noch melden - ein Aufstand gegen eine eigene (sowjet-litauische?) Regierung. Nein, die Mehrheit der litauisch-sowjetischen Amtsträger hatten sich längst auch von der kommunistischen Partei losgesagt - auch wenn bei einigen vielleicht ein wenig Populismus mitgeschwungen haben mag. Gorbatschow - der in Deutschland zur gleichen Zeit bereits um die Modalitäten einer Wiedervereinigung verhandelte - verhängt im April 1990 eine Wirtschaftsblockade. 

Erst Monate danach - am 13.Januar 1991 - dann die blutigen Ereignisse in Vilnius, rund um den Fernsehturm und das Parlament. Die Sondereinheiten der "schwarzen Barette" (Gruppe "Apha", unter Kommandant Golowatow) versuchen zurückzudrehen, was inzwischen Zehntausende von Menschen mit ihrem eigenen Körper und ihrer Präsenz - aber ohne Waffen - zu verteidigen bereit sind. 11 Menschen wurden erschossen, zwei von Panzern überfahren, einer starb an einem Herzinfarkt. Es gab Hunderte von Verletzten.

Wer schreibt Geschichte? 
Aber heute - 20 Jahre später - kommt die eher von den Wessis geschriebene Geschichte wieder zum Vorschein. Die besteht offenbar nur aus den Stichworten: Gorbi war gut, die Putschisten gegen ihn waren böse, und danach wurde alles gut (nur seltsam, dass die Sowjetunion zusammenbrach?). Aber beide Seiten haben Defizite in der Diskussion unter- und miteinander - das wurde nicht nur durch die schlecht kommunizierenden Behörden deutlich.Auch in Litauen sind die Kenntnisse über Österreich oder auch Deutschland nicht gerade gewachsen - allzu sehr haben sich viele konzentriert auf die rein ökonomische und konsumorientierte Seite einer Beziehung. 
Es ist die Stunde der europäischen Nachhilfestunden. Viele Äußerungen auf beiden Seiten prägen nicht das Zuhören, was andere zu sagen haben, sondern Versuche Vorbedingungen zu formulieren für die Akzeptanz des Diskussionspartners. So als ob beide Seiten sich nicht ganz ernst nehmen würden gegenseitig.

Beispiele gefällig? Einige Zitate aus Zeitungen und Internetforen.
- die Litauer sollen erst mal im eigenen Lande die Korruption beseitigen, bevor sie sich über eine nicht funktionierende österreichische Justiz beschweren
- die Litauer sollen sich nicht über die 14 Toten von 1991 beschweren, sondern froh sein dass sie so günstig aus der Sowjetunion entlassen wurden
- die Litauer sollen doch froh sein, dass sie 2004 in die EU rein gelassen wurden, und nun können sie auch noch nach Österreich oder Deutschland gehen um dort zu arbeiten, wenn sie wollen
- die Litauer sollen bitte lieber die Täter des Holocaust verfolgen als die Funktionsträger der Sowjetzeit
- diese Litauer sollen bitte andere nicht mit in ihre Russophobie hineinziehen
- europäische Haftbefehle gelten eben nicht rückwirkend, sondern - was Litauen angeht - erst ab 2004

Aber auch auf litauischer Seite gibt es Vorbehalte, die Argumente der österreichischen Seite zu akzeptieren.
- Europa müsse erstmal die Verbrechen Stalins und des Bolschewismus genauso anerkennen wie die des Nationalsozialismus
- die viel gepriesenen "europäischen Werte" würden wohl eher den Interessen einiger Staaten entsprechen, als denen aller zusammen
- das Interesse an der Lieferung von russischem Gas sei nun mal mehr wert als ein kleines Nachbarland
- selbst falls KGB-Mann Golowatow keine Schuld an den Ereignissen vom Januar 1991 trage, so müsse auch bei dessen "Chef" Gorbatschow nachgefragt werden, wieviel Einblick und Kenntnis er damals in das Geschehen hatte

Litauen? Was ist eigentlich Litauen?
Bisher verstand der Westen die europäische Einigung weitgehend als Einbahnstraße: wir kratzen gnädig etwas Geld zusammen, um den armen Brüdern und Schwestern im Osten zu helfen. Staunend steht zumindest ein Teil Österreichs nun vor der Tatsache, dass diese "Geholfenen" durchaus in der Lage sind, bei gegebenem Anlaß spöttische Karikaturen über das "Helferland" zu veröffentlichen. Litauen? Was glauben die denn wer die sind? 

Andererseits hat auch Litauen durchaus ein ambivalentes Verhältnis zur eigenen Sowjetvergangenheit. Es gibt keinerlei Gesetze, die frühere Sowjetfunktionäre heute von hohen Ämtern in Staat und Verwaltung fernhalten würde. Und es gibt bisher auch keinerlei Erklärung dafür, warum das Haftgesuch gegen Golowatow erst im Oktober 2010 ausgestellt wurde.

Jedenfalls sollten Europäer nicht glauben, nur weil sie vielleicht keine Österreicher oder Litauer sind, sie hätten mit dieser Diskussion nichts zu tun. Ob wir auf absehbare Zeit mit Putin-Russland zu einer gemeinsamen Auffassung von den wichtigen Geschehnissen der jüngeren Geschichte gelangen werden, ist bisher nicht absehbar. Zusammen mit Litauen sollte es eigentlich ein wenig leichter sein. 

Wer's heute noch glaubt: konstruierte
SowjetHarmonie, hier Abbildung aus einer
Propagandazeitschrift aus dem Jahre 1980
Hoffnungen der Ewig-Gestrigen
Wer sich am Beispiel ansehen möchte, wie es in Deutschland ausschaut, wenn wir diese Art Diskussion um aus baltischer Sicht wichtige Themen vernachlässigen, darf sich gern mal die Beiträge der "alten Genossen" ansehen - also jener einfältigen Menschen, die uns als Zeitreise gleich mehr als 20 Jahre zurück versetzen und die so tun, als habe es den Hitler-Stalin-Pakt, die Aufteilung der Interessengebiete unter den beiden Terrorregimes und deren erneute unrechtmäßige Besetzung nach dem Krieg nie gegeben. 


Mal wieder finden wir Beispiele solcher Ewig-Gestrigen ausgerechnet in Zeitschriften, die sich vom Namen her ziemlich jung gebaren. Da wird unter Bezugnahme auf "die litauische Seite" folgendes geschrieben, Zitat: "Die Erzählung von der »illegalen russischen Besatzung« der baltischen Länder, der alle Maßnahmen der sowjetischen Behörden zur Aufrechterhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung als Kriegshandlungen erscheinen läßt. Die Existenz der Sowjetunion und der baltischen Sowjetrepubliken in ihrem Bestand war indes eine völkerrechtlich anerkannte Tatsache" (Werner Pirker in Junge Welt, 23.7.11). Und weiter: "Bei der Auseinandersetzung um den Fernsehturm von Vilnius, die am 13. Januar 1991 entbrannt war und vier Menschen das Leben kostete, handelte es sich deshalb auch nicht um eine ausländische Aggression, sondern um die Niederschlagung eines Aufstandsversuches. Der Kampf um Rundfunk- und Fernsehstationen ist stets ein Kampf um die strategische Oberhoheit (über die öffentliche Meinung)."
 
Ja, sie mal an! Nun verstehen wir, warum Kommandant Golowatow so enttäuscht war, als er nach den Januarereignissen 1991 nach Moskau zurückkehrte (siehe das Interview mit ihm aus dem Jahr 2004). Denn niemand lobte ihn dort - hatte er doch nur versucht, die "strategische Oberhoheit" über ein Land zu bewahren, in dem fast alle nichts anderes mehr wollten als dass endlich die längst beschlossene und verkündete Unabhängigkeit anerkannt werden würde. Angesichts der Toten - und der internationalen Aufmerksamkeit - wollte in Moskau mit dieser Aktion damals niemand mehr etwas zu tun haben (nichts gewußt, nichts gesehen, nicht gewollt). Wenn das sich heute wieder geändert haben sollte - und Golowatow als "Pensionär" nun plötzlich posthum zum "Helden der Sowjetunion" erhoben werden sollte - dann sicher nicht den gemeinsamen Werten in Europa wegen - dessen sollten wir uns bewußt sein.

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