17 August 2011

Schwedische Montagsdemos

79 Montage waren es, die zwischen der litauischen Unabhängigkeitserklärung vom 11.März 1990 und Mitte September 1991, als auch international die Unabhängigkeit der baltischen Staaten anerkannt wurde. Jeden Montag gab es in Stockholm auf dem Norrmalmstorg Solidaritätsdemonstrationen für die Freiheit Estlands, Lettlands und Litauens. Darin erinnerte jetzt der schwedische Ministerpräsident Reinfeldt am selben Ort, zusammen mit den drei Regierungschefs Kubilius, Dombrovskis und Ansip (siehe TheLocal.se, schwedisches Radio, Schwedischer Reichstag).
Kubilius, Dombrovskis, Ansip, Reinfeldt -
Schuldenabbau in Stockholm
Den Worten Reinfeldts zufolge haben sich diese Montagsdemos in dieser Zeit über ganz Schweden verbreitet, an 50 verschiedenen Orten. Aber nicht nur das: Ende Mai / Anfang Juni 1990 reisten hochrangige Delegationen der drei Länder - damals noch Vertreter der "Obersten Räte" nach Schweden und wurden dort freundlich und mit allen Ehren empfangen. Ebenfalls noch 1990 wurde ein "Baltisches Informationsbüro" in Schweden gegründet. Die Art und Weise ist bemerkenswert: die schwedische Regierung forderte gewissermaßen die Vertreter der litauischen, lettischen und estnischen Volksfronten auf, sich an die staatliche schwedische Agentur für internationale Zusammenarbeit (schwed. Abk. SIDA) zu wenden um finanziell bei dem Vorhaben unterstützt werden zu können.Und ebenfalls noch vor dem August 1991 gegannen in Schweden Ausbildungskurse für Nachwuchsdipomaten aus Estland, Lettland und Litauen.
Schweden haben "Ehrenschulden" an die baltischen Staaten ("debt of honour"), sagte Reinfeldt in seiner Rede zum 15.August 2011. Vielleicht wird mancher Este, Lette oder Litauer dazu auch eher die Situation am Ende des 2.Weltkriegs erinnern, als Schweden Flüchtlinge an die sowjetischen Behörden auslieferte.

Diese baltisch-schwedische Allianz des Erinnerns fällt aus deutscher Sicht wohl besonders auf, weil Ähnliches in Deutschland bisher ganz undenkbar wäre. Zwar gab es auch in verschiedenen deutschen Städten immer wieder Solidaritätskundgebungen für die baltischen Unabhängigkeitsbewegungen, auch zwischen dem März 1990 und dem August 1991 - aber es ist deutschen Behörden und Politikern offenbar immer noch lästig, daran zu erinnern. Genau so lästig, wie "die Balten" 1990 waren, als sie auf ihre eigenen Rechte hinwiesen, und darauf bestanden, nicht erneut nur den Interessen der Großmächte untergeordnet zu sein. Die überwiegende Zahl führender deutscher Politiker war damals auf solchen pro-baltischen Veranstaltungen auch gar nicht zu sehen. Zwar werden in der offiziellen Geschichtsschreibung die Tage nach dem misslungenen Putsch gegen Gorbatschow heroisiert und erinnert - so stark, dass inzwischen sogar schon einige verkünden, die baltischen Staaten hätten ihre Unabhängigkeit auch erst dann verkündet, als sie Deutschland dann endlich mit wenigen Tagen Verzögerung anerkannte. Auf eine Feier in Deutschland in Anerkennung dessen, was sich in Litauen, Lettland und Estland zwischen März 1990 und August 1991 tat, wie deren Amtsträger - im Gegensatz zur freundlichen Aufnahme in Schweden - in Bonn bei deutsche Politiker in die Hinterzimmer verwiesen wurden: darauf werden wir wohl noch eine Zeitlang warten müssen.

Die deutsche Außenpolitik strickte in den 90er Jahren eifrig an der Legende von "Deutschland, Anwalt der Balten". Dabei gehen einige wohl davon aus, dass die Betroffenen vor der internationalen Anerkennung ihrer Unabhängigkeit irgendwie rechtlos waren, also immer nur die Interpretation der Machthaber in Moskau zählte. Da passt der Spruch immer noch, der da sagt: Anwalt wohl - aber dieser scheute es, mit seinen Klienten auch vor Gericht zu gehen! (zweite Variante: der Anwalt begann erst dann zu arbeiten, als seine Klienten seine Rechnung in einer ihm vorteilhaften Währung bezahlen konnten)

Nun werden es die Schweden besser beurteilen können, ob Schweden wirklich 1990/91 so "baltenfreundlich" war, wie es die heutige Darstellung von regierungsamtlicher Seite gerne darstellen möchte. Das Portal "Thelocal" zitiert einige kritische Stimmen während der Kundgebung in Stockholm, die zurecht darauf hinweisen, Reinfeldt könne nur deshalb heute so schön reden, weil damals seine Partei nicht an der Macht gewesen sei. Das Leserforum auf dieser Seite landet dann sehr schnell wieder bei gegenseitigen Schuldzuweisungen: Schweden liefert Balten aus und rettet Juden, Balten angeblich eifrige Mitglieder der Waffen SS, und so weiter. Die öffentliche Diskussion ist auch in Schweden ziemlich kontrovers. Auf einen Artikel von Reinfeldt im "Aftonbladet" gibt es 430 Leserkommentare, vielfach auch zum Thema "schöne Politikersprüche, bittere Realität". Dagens Nyheter schreibt über die "baltische Lektion" und bekommt ebenfalls 100 Leserkommentare. Svenska Dagbladet bringt ein Interview mit dem estnischen Präsidenten Ilves. Göteborgs-Posten bringt, abseits von der Alltagspoltik, einen Bericht über fruchtbare litauisch-schwedische Zusammenarbeit bei Mode und Design. Vielleicht funktioniert die wirkliche Zusammenarbeit zwischen Litauen und den (west)europäischen Nachbarn wirklich besser abseits der großen Reden und Gedenktage. Aber dennoch: Politiker sollten sich ein wenig in der baltischen Befindlichkeit auskennen, bevor sie wieder öffentlich Dinge der Vergangenheit rühmen, die im Moment des aktuellen Geschehens zu unterstützen sie sich gescheut hätten.

Zu den Beziehungen Schwedens zu den baltischen Staaten in den Jahren 1989-1991 ein Buchtipp: Lars Peter Fredén: „Förvandlingar – Baltikums Frigörelse och svensk diplomati 1989-91“, Bokförlaget Atlantis, Stockholm 2004.

12 August 2011

Fettige Näpfchen und diplomatische Pauken

Zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen donnert der Name "Litauen" gewaltig über die Flure diplomatischer Vertretungen und europäischer Ministerien. Rächt es sich jetzt, dass in der Diplomatie die Benutzung einer größt möglichen Pauke fast nie zum geeigneten Mittel der Verständigung erklärt wird? Hatte die Diskussion um den ehemaligen KGB-Oberst Mihail Golowatow noch Diskussionen um die genaue Bewertung der Ereignisse von 1991 und dem litauischen Weg zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit ausgelöst, so dreht es sich jetzt ebenfalls um einen Fall der Zusammenarbeit zwischen Justizministerien.

In Belorussland (der "letzten Diktatur Europas", wie viele sagen) ist Ales Belyatsky, einer der bekanntesten Menschenrechtsaktivisten des Landes, unter dem Vorwurf der angeblichen Steuerhinterziehung festgenommen worden. Belyatsky's Organisation "Vjasna"unterstützt vor allem politisch Verfolgte und deren Angehörige (siehe TAZ 9.8.11 und 10.8.11).
Es war das litauische Justizministerium, dass sich veranlaßt sah, Hunderte von Kontodaten von Weißrussen bei litauischen Banken an die Justizbeamten des Lukaschenko-Regimes weiterzureichen. So verschaften sie ihren "Kollegen" einen guten Überblick, welcher belorussische Staatsbürger mittels Konten in Litauen zum Beispiel über Unterstützung durch Projektgelder der EU verfügt - daher der Vorwurf des "Steuervergehens". 


Ein Teil der litauischen Presse empört sich nun über das Verhalten des eigenen Ministers - aber einen Rücktritt wird es wohl nicht geben. Außenminister Ažubalis ließ über den litauischen Botschafter in Minsk eine mühsam formulierte Erklärung gegenüber der Frau Beliatsky's und belorussischen Menschenrechtlern abgeben. Litauen verurteile "den Gebrauch von im Zuge von Amtshilfeverfahren gegebenen Informationen für politische Zwecke". Hm. Von der Möglichkeit grundsätzlichen Schutzes sensibler Daten für jeden einzelnen Bürger ist nicht die Rede.

Manche reden ja in Litauen auch gerne von einer "Nord-Süd-Achse" in Osteuropa oder Nordosteuropa. Also eine regionale Zusammenarbeit ohne eine vorherrschende Rolle weder von Russland noch von Deutschland. Wer vielleicht nicht glauben mag, dass Litauen in der Mitte Europas liegt, dann aber doch im Zentrum einer Interessenvereinigung von Estland über Lettland, der Ukraine, Polen, möglichst bis Georgien. Und natürlich Belorussland. Schon seit Jahren versucht sich die litauische Außenpolitik hier zu positionieren, mal als Vermittler hier, mal als Konferenzveranstalter dort. Schon deshalb ist der Fall Belyatsky nun ein großer Fleck auf der gewünschten weißen Weste des Regionalpartners Litauen.

Klar, dass gerade österreichische Medien den Fall interessiert beobachten (siehe z.B. Wiener Zeitung). Linas Jegelevicius bezeichnet das litauische Verhalten bezüglich Belorussland in der BALTIC TIMES als "Imitieren Österreichs".Es kann ja schon jemand mal den Antrag stellen, das Wort "österreichisieren" (= Unterstützung von undemokratischem Regierungshandeln?) in die entsprechenden Wörterbücher aufzunehmen.

01 August 2011

Europäische Nachhilfestunden

Wer dieser Tage weder Österreicher noch Litauer ist, an dem geht die hitzige Diskussion wohl vorbei. Anfangs schien es hauptsächlich eine Sache von 52 Minuten zu sein - genau diese Zeitspanne lag zwischen der Wieder-Freilassung des Ex-KGB-Mannes und Einsatzleiters der Sondereinheiten der "Schwarzen Barette" von 1991 in Vilnius, Michail Golowatow, und dem Eintreffen der von Litauen geforderten detaillierteren Angaben zu dem auf Golowatow ausgestellten Haftbefehl.

KGB auf Alpenurlaub
Dies geschah am Donnerstag, den 14.Juli. In den darauf folgenden Stunden des herannahenden Wochenendes muss bei vielen Behörden ja mit frühem Feierabend gerechnet werden - so auch hier. Aber wäre das Ergebnis - die Freilassung des kurzfristig Festgehaltenen - ein anderes gewesen, wenn ein paar Stunden oder vielleicht auch ein paar Tage verstrichen wären? Golowatow war - so das österreichische Juristenösterreichisch - in "verfügte Anhaltung" genommen worden, also nicht etwa in Haft. Dass Golowatow gar nicht erst in eine Haftanstalt überstellt wurde, soll die russische Botschaft in Österreich erreicht haben. Angehalten und wieder gehen lassen, das klingt schon sehr noch einem sehr kurzfristigen und gar nicht dringlichen Vorgang. 

Aber wie auch immer: dieser immer noch anhaltende Streit zwischen Litauen und Österreich zeigt interessante Ergebnisse und Schattierungen, und geht weit über die Frage von einer möglichen privaten Schuld Michail Golowatows an den Toten vom Januar 1991 in Vilnuis hinaus. Vielleicht werden später einmal beide Seiten sagen: gut, dass diese Diskussion damals im Juli 2011 wieder aufgebrochen ist. Denn angesichts vieler schöner Reden zur Freundschaft und dem Zusammenhalt der Länder und Völker in Europa zeigen sich hier viele Einzelfragen, die offenbar über längere Zeit ungelöst und unberührt liegen geblieben sind.

Historisches Gedächtnis
Dieses "Infoset" schenkte der litauische Außenminister Ažubalis
seinem österreichischen Amtskollegen Spindelegger
als Antwort auf dessen Erläuterungsversuche im Fall Golowatow
Es gibt ja den schönen Spruch vom "Mantel der Geschichte", den man ergreifen müsse, um im richtigen Moment den Lauf der Ereignisse beeinflussen zu können. Aber so richtig bekannt und im allgemeinen Bewußtsein verwurzelt sind nur die Daten, die auch für Deutschland akzeptabel erschienen (das sich unter Kohl und Kinkel immer als "Anwalt der Balten" bezeichnet hatte). Erst nachdem es im August 1991 einen Putsch gegen den im Westen positiv bewerteten Sowjetführer Gorbatschow gab, wandten sich die Machthaber denen zu, die ihn überwanden und Konsequenzen daraus zogen. Aber was ist mir den Volksbewegungen zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit, die sich schon 1987/88 in den baltischen Staaten gründeten? Selbst in den damals noch bestehenden "Obersten Sowjets" errangen nach und nach diese Volksbewegungen die Mehrheit. Bereits ab dem Februar 1990 hatte die Sympathisanten der im Juni 1988 gegründeten "Sąjūdis" im litauischen Obersten Sowjet die meisten Sitze. Bereits am 23.August 1989 hatte es die gewaltige Menschenkette von Vilnius über Riga nach Tallinn gegeben, so dass in dieser Zeit bereits klar wurde, was die Menschen wollten. Das Oberste sowjetische Gremium (der Oberste Rat) in Litauen wählte Vytautas Landsbergis zu seinem Vorsitzenden. Nur Moskau sträubte sich noch - und zwar ausdrücklich Gorbatschow, der ja an eine innere "Reform" des Systems glaubte, und den baltischen Staaten das Recht auf eigene Entscheidungen abstritt. Am 11.März 1990 erklärte Litauen die Wiederherstellung seiner Unabhängigkeit. Es war also nicht - wie manche österreichische Zeitungen auch heute noch melden - ein Aufstand gegen eine eigene (sowjet-litauische?) Regierung. Nein, die Mehrheit der litauisch-sowjetischen Amtsträger hatten sich längst auch von der kommunistischen Partei losgesagt - auch wenn bei einigen vielleicht ein wenig Populismus mitgeschwungen haben mag. Gorbatschow - der in Deutschland zur gleichen Zeit bereits um die Modalitäten einer Wiedervereinigung verhandelte - verhängt im April 1990 eine Wirtschaftsblockade. 

Erst Monate danach - am 13.Januar 1991 - dann die blutigen Ereignisse in Vilnius, rund um den Fernsehturm und das Parlament. Die Sondereinheiten der "schwarzen Barette" (Gruppe "Apha", unter Kommandant Golowatow) versuchen zurückzudrehen, was inzwischen Zehntausende von Menschen mit ihrem eigenen Körper und ihrer Präsenz - aber ohne Waffen - zu verteidigen bereit sind. 11 Menschen wurden erschossen, zwei von Panzern überfahren, einer starb an einem Herzinfarkt. Es gab Hunderte von Verletzten.

Wer schreibt Geschichte? 
Aber heute - 20 Jahre später - kommt die eher von den Wessis geschriebene Geschichte wieder zum Vorschein. Die besteht offenbar nur aus den Stichworten: Gorbi war gut, die Putschisten gegen ihn waren böse, und danach wurde alles gut (nur seltsam, dass die Sowjetunion zusammenbrach?). Aber beide Seiten haben Defizite in der Diskussion unter- und miteinander - das wurde nicht nur durch die schlecht kommunizierenden Behörden deutlich.Auch in Litauen sind die Kenntnisse über Österreich oder auch Deutschland nicht gerade gewachsen - allzu sehr haben sich viele konzentriert auf die rein ökonomische und konsumorientierte Seite einer Beziehung. 
Es ist die Stunde der europäischen Nachhilfestunden. Viele Äußerungen auf beiden Seiten prägen nicht das Zuhören, was andere zu sagen haben, sondern Versuche Vorbedingungen zu formulieren für die Akzeptanz des Diskussionspartners. So als ob beide Seiten sich nicht ganz ernst nehmen würden gegenseitig.

Beispiele gefällig? Einige Zitate aus Zeitungen und Internetforen.
- die Litauer sollen erst mal im eigenen Lande die Korruption beseitigen, bevor sie sich über eine nicht funktionierende österreichische Justiz beschweren
- die Litauer sollen sich nicht über die 14 Toten von 1991 beschweren, sondern froh sein dass sie so günstig aus der Sowjetunion entlassen wurden
- die Litauer sollen doch froh sein, dass sie 2004 in die EU rein gelassen wurden, und nun können sie auch noch nach Österreich oder Deutschland gehen um dort zu arbeiten, wenn sie wollen
- die Litauer sollen bitte lieber die Täter des Holocaust verfolgen als die Funktionsträger der Sowjetzeit
- diese Litauer sollen bitte andere nicht mit in ihre Russophobie hineinziehen
- europäische Haftbefehle gelten eben nicht rückwirkend, sondern - was Litauen angeht - erst ab 2004

Aber auch auf litauischer Seite gibt es Vorbehalte, die Argumente der österreichischen Seite zu akzeptieren.
- Europa müsse erstmal die Verbrechen Stalins und des Bolschewismus genauso anerkennen wie die des Nationalsozialismus
- die viel gepriesenen "europäischen Werte" würden wohl eher den Interessen einiger Staaten entsprechen, als denen aller zusammen
- das Interesse an der Lieferung von russischem Gas sei nun mal mehr wert als ein kleines Nachbarland
- selbst falls KGB-Mann Golowatow keine Schuld an den Ereignissen vom Januar 1991 trage, so müsse auch bei dessen "Chef" Gorbatschow nachgefragt werden, wieviel Einblick und Kenntnis er damals in das Geschehen hatte

Litauen? Was ist eigentlich Litauen?
Bisher verstand der Westen die europäische Einigung weitgehend als Einbahnstraße: wir kratzen gnädig etwas Geld zusammen, um den armen Brüdern und Schwestern im Osten zu helfen. Staunend steht zumindest ein Teil Österreichs nun vor der Tatsache, dass diese "Geholfenen" durchaus in der Lage sind, bei gegebenem Anlaß spöttische Karikaturen über das "Helferland" zu veröffentlichen. Litauen? Was glauben die denn wer die sind? 

Andererseits hat auch Litauen durchaus ein ambivalentes Verhältnis zur eigenen Sowjetvergangenheit. Es gibt keinerlei Gesetze, die frühere Sowjetfunktionäre heute von hohen Ämtern in Staat und Verwaltung fernhalten würde. Und es gibt bisher auch keinerlei Erklärung dafür, warum das Haftgesuch gegen Golowatow erst im Oktober 2010 ausgestellt wurde.

Jedenfalls sollten Europäer nicht glauben, nur weil sie vielleicht keine Österreicher oder Litauer sind, sie hätten mit dieser Diskussion nichts zu tun. Ob wir auf absehbare Zeit mit Putin-Russland zu einer gemeinsamen Auffassung von den wichtigen Geschehnissen der jüngeren Geschichte gelangen werden, ist bisher nicht absehbar. Zusammen mit Litauen sollte es eigentlich ein wenig leichter sein. 

Wer's heute noch glaubt: konstruierte
SowjetHarmonie, hier Abbildung aus einer
Propagandazeitschrift aus dem Jahre 1980
Hoffnungen der Ewig-Gestrigen
Wer sich am Beispiel ansehen möchte, wie es in Deutschland ausschaut, wenn wir diese Art Diskussion um aus baltischer Sicht wichtige Themen vernachlässigen, darf sich gern mal die Beiträge der "alten Genossen" ansehen - also jener einfältigen Menschen, die uns als Zeitreise gleich mehr als 20 Jahre zurück versetzen und die so tun, als habe es den Hitler-Stalin-Pakt, die Aufteilung der Interessengebiete unter den beiden Terrorregimes und deren erneute unrechtmäßige Besetzung nach dem Krieg nie gegeben. 


Mal wieder finden wir Beispiele solcher Ewig-Gestrigen ausgerechnet in Zeitschriften, die sich vom Namen her ziemlich jung gebaren. Da wird unter Bezugnahme auf "die litauische Seite" folgendes geschrieben, Zitat: "Die Erzählung von der »illegalen russischen Besatzung« der baltischen Länder, der alle Maßnahmen der sowjetischen Behörden zur Aufrechterhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung als Kriegshandlungen erscheinen läßt. Die Existenz der Sowjetunion und der baltischen Sowjetrepubliken in ihrem Bestand war indes eine völkerrechtlich anerkannte Tatsache" (Werner Pirker in Junge Welt, 23.7.11). Und weiter: "Bei der Auseinandersetzung um den Fernsehturm von Vilnius, die am 13. Januar 1991 entbrannt war und vier Menschen das Leben kostete, handelte es sich deshalb auch nicht um eine ausländische Aggression, sondern um die Niederschlagung eines Aufstandsversuches. Der Kampf um Rundfunk- und Fernsehstationen ist stets ein Kampf um die strategische Oberhoheit (über die öffentliche Meinung)."
 
Ja, sie mal an! Nun verstehen wir, warum Kommandant Golowatow so enttäuscht war, als er nach den Januarereignissen 1991 nach Moskau zurückkehrte (siehe das Interview mit ihm aus dem Jahr 2004). Denn niemand lobte ihn dort - hatte er doch nur versucht, die "strategische Oberhoheit" über ein Land zu bewahren, in dem fast alle nichts anderes mehr wollten als dass endlich die längst beschlossene und verkündete Unabhängigkeit anerkannt werden würde. Angesichts der Toten - und der internationalen Aufmerksamkeit - wollte in Moskau mit dieser Aktion damals niemand mehr etwas zu tun haben (nichts gewußt, nichts gesehen, nicht gewollt). Wenn das sich heute wieder geändert haben sollte - und Golowatow als "Pensionär" nun plötzlich posthum zum "Helden der Sowjetunion" erhoben werden sollte - dann sicher nicht den gemeinsamen Werten in Europa wegen - dessen sollten wir uns bewußt sein.

19 Juli 2011

Eine Frage der Geschwindigkeit

Gut, das Ähnliches nicht während des Kulturhauptstadtjahres 2009 zwischen Litauen und Österreich passierte - da kooperierten Linz und Vilnius einträglich und realisierten manches Kulturprojekt trotz Wirtschaftskrise. Litauen ist verärgert über Österreich - und Österreich über Litauen? "Ein Fall wie Ratko Mladic" sagt Litauens Außenminister Audronius Ažubalis (KURIER). 

Es geht um Mikhail Golowatow, einen 62-Jährigen Ex-KGB-Offizier und ehemaligen Kommandant der sowjetischen Spezialeinheit „Alpha“. Gesucht per internationalem Haftbefehl, ausgestellt am 18.Oktober 2010, und am 14.Juli am Flughafen Wien-Schwechat in Österreich festgenommen. Er wird verdächtigt, am brutalen Vorgehen der benannten Sondereinheiten am 13.Januar 1991 an entscheidender Stelle beteiligt gewesen zu sein. Nachdem die österreichische Staatsanwaltschaft zunächst mitgeteilt hatte, das Auslieferungsverfahren nach Litauen könne bis zu einem Monat dauern (Meldung ORF), teilten die österreichischen Behörden bereits in der Nacht zum 16.Juli Litauen mit, der Verdächtigte sei wieder freigelassen worden (Pressemitteilung lit. Außenministerium).Die Anschuldigungen seien "zu vage" gewesen, so die österreichische Staatsanwaltschaft. Zumindest betreffen sie Ereignisse, deren öffentliche Darstellung für Litauen essentiell wichtig sind - auch als historische Grundlage des heutigen, demokratischen Litauen.

Die Situation von 1991 ist in sofern außergewöhnlich gewesen, da die meisten Staaten der Welt die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Litauens erst ein halbes Jahr nach den blutigen Januartagen 1991 in Vilnius anerkannt hatten. Das litauische Parlament (ehemaliger Oberste Sowjet), in dem die Unabhängigkeitsbewegung Sajudis seit dem 24.Februar 91 die Mehrheit hatte, erklärte am 11.März 1990 Litauen als ersten der damaligen Sowjetstaaten für unabhängig. Deutschland erkannte das unabhängige Litauen am 28.August 1991 an. 

Die überraschend schnelle Freilassung des festgenommenen Beschuldigten ruft nun scharfe Protestnoten auf litauischer Seite hervor. Außenminister Ažubalis: "Wir wissen, dass der Mann der Kommandant der Einheiten war, die 1991 den Fernsehturm gestürmt haben. Dabei sind vierzehn Menschen getötet und tausend verletzt worden, einige leiden heute noch." Auch die beiden Amtskollegen aus Estland und Lettland, Paet und Kristovskis, haben sich heute in Form eines gemeinsamen offenen Briefes mit Ažubalis solidarisiert. "Obwohl wir selbstverständlich die Unabhängigkeit der Gerichte akzeptieren", äußern darin die drei Minister, "so sind wir doch von der Geschwindigkeit überrascht, mit der die österreichischen Behörden Golowatow wieder freigelassen haben. Dies schwächt die Internationale Zusammenarbeit der Strafvollzugsbehörden, und offenbart auch wenig Anzeichen der Solidarität von EU-Staaten untereinander." Der derzeitige österreichische Geschäftsträger in Vilnius, Botschaftsrat Josef Sigmund, bekam ein Geschichtsbuch mit Schilderungen der Ereignisse des Januar 1991 aus litauischer Sicht überreicht (Botschafter Helmut Koller befindet sich derzeit auf Urlaub). Und die Wiener Zeitung zitiert die litauische Staatspräsidentin und Ex-EU-Kommissarin Dalia Grybauskaite mit der Aussage: "eine politisch nicht zu rechtfertigende Handlung, die die Rechtszusammenarbeit der EU-Mitgliederstaaten kompromittiert". Litauen berief seinen Botschafter in Österreich zu Konsultationen nach Vilnius, und die litauische Parlamentspräsidentin Irena Degutiene kündigte an, das Thema vor das Europaparlament bringen zu wollen. Dagegen sieht Österreichs Außenminister Spindelegger den diplomatischen Konflikt mit Litauen zumindest von juristischer Seite bereits als erledigt an, indem er behauptete, Litauen eine Frist zur Beibringung weiterer Fakten gesetzt zu haben, und diese Frist sei verstrichen. (der Standard). Einzelne Abgeordnete des österreichischen Nationalrats, wie der grüne Justizsprecher Albert Steinhauser, forderten Aufklärung über die Geschehnisse - was aber, wie sie selbst zugeben mussten, wegen der Sommerpause des Parlaments vor September nicht möglich sei. Die österreichische Handelskammer sieht den Konflikt offenbar ebenfalls kaufmännisch-gelassen. In "Die Presse" ist ein Zitat eines Wirtschaftsvertreters wiedergegeben, der meint: Österreich liefert kaum Konsumgüter nach Litauen, nichts was durch öffentliche Boykottaufrufe bedroht werden könnte. 

Wie hatte es noch Cornelius Hell, einer der bekanntesten Litauen-Kenner Österreichts, Literaturkritiker und Übersetzer aus dem Litauischen, Autor mehrerer Bücher über Litauen, anläßlich einer Festrede zum 40jährigen Bestehen der Partnerschaft Salzburg-Litauen gesagt? "Nicht vergessen sollte man auch, dass der sogenannte „Westen“ – ganz anders als in Ex-Jugoslawien – die Bestrebungen der drei baltischen Staaten, die völkerrechtswidrige sowjetische Okkupation zu beenden und ihre Staaten wiederherzustellen, gar nicht so gerne gesehen hat. Die österreichische Bundesregierung hat sich in einer sehr peinlichen Erklärung sogar mit den Putschisten im August 1991 arrangiert." 

Aus österreichischer Sicht wiederum ist die Ansicht nachzulesen, Litauen hätte in diesem Fall eben besser den EU-Gerichtshof in Den Haag anrufen sollen - ein EU-Haftbefehl sei für diese Art "Kriegsverbrechen" eben nicht geeignet (sondern eher für Schmuggel, Geldwäsche oder Urheberrechtsverletzungen). Und Golowatow habe auch noch in andere EU-Länder problemlos einreisen können - nur Österreich habe ihn zurückgeschickt. Andererseits gibt es auch Äußerungen, die von Litauen eine bessere Behandlung "ihrer russischen Mitbürger" einfordern - und das Land damit zumindest mit ihren nördlicheren Nachbarn verwechseln dürften. Als "Russenhasser" wollen sich offenbar weit weniger Österreicher identifiziert sehen denn als "Litauen-Hasser".
Die Diskussion ist ungewöhnlich heftig: Vladimiras Laucius, litauischer Politologe, äußert sich in litauischen Nachrichtenportalen und beim "Standard" - und erntet hunderte von Leserreaktionen auch in Österreich - darunter sind auch solche, die Litauen für "tendenziell korrupt" halten, und ein solches Land solle sich eben hüten Österreich Vorschriften machen zu wollen. Litauer protestieren ihrerseits gegen Österreich auf den Straßen von Vilnius - darunter die EU-Abgeordnete Radvile Morkunaite-Mikuleniene.

Vorläufig kann man sich nur in einem einig sein: allein schon der auffällig eilige Beschluß, den Beschuldigten lieber mal wieder frei zu lassen, hat der Freundschaft beider Länder eher einen "Bärendienst" geleistet.
Bedenklich auch, dass einige österreichische Medien offenbar selbst beim Versuch Schwierigkeiten haben, die Ereignisse von 1991 in Litauen zusammenzufassen. Hier ein Beispiel aus der "Kleinen Zeitung" vom 19.7., bezogen auf Golowatow: "Der 62-Jährige soll in den letzten Tagen der Sowjetherrschaft als Kommandant der Spezialeinheit Alpha am 13. Jänner 1991 den Angriff auf den Fernsehturm in Vilnius geleitet haben, der von Regimegegnern besetzt worden war. Beim Versuch, den Aufstand niederzuschlagen, wurden 14 Menschen getötet und 700 verletzt." - Von welchem "Aufstand" ist hier bitteschön die Rede? Wer regierte zu diesem Zeitpunkt das Land? Bitte nachlesen! (aber Vorsicht, auch bei Wikipedia klaffen bei diesem Thema Lücken ...)

Infos des litauischen Außenministeriums zur litauischen Reaktion auf die Freilassung Golowatows

08 Juli 2011

Die Basketball Hymne 2011

Die Basketball-Europameisterschaft wirft ihre Schatten voraus. Während in Deutschland lediglich darüber diskutiert wird, ob Dirk Nowitzki nun dabei ist oder nicht, wurde in Litauen der offizielle EM-Song vorgestellt (Marijonas, Mantas und Mia).



Nun können wir darüber spekulieren, was die EM-Besucher denken werden, wenn sie dieses Lied nicht nur hören, sondern auch das Video dazu sehen. Folgende Reaktionen halte ich für möglich.
1) Sieh an, wären die Litauer mit diesem Lied bei der Eurovision gestartet, wären sie weiter oben gelandet
2) Ungewollt werden die Gegensätze im Krisen-Litauen gezeigt: während der Sänger über seine Begeisterung fürs Partyfeiern singt und meint die Leute würden jetzt ausflippen auf der Straße, fahren zu Sowjetzeiten gebaute Züge durchs Bild, leisten andere in der Fabrik ihre Schicht ab und treffen sich in alten Garagen, um die letzten Fan-Utensilien zusammenzukratzen und Fahnen selbst zu nähen. Die jungen Modedesigner, die sich im Film versammeln, nähen natürlich nur die litauische Flagge - keine Spur von einer Atmosphäre ähnlich "die Welt zu Gast bei Freunden". Dann wird Ballett getanzt, und ein paar einsame Musiker treffen sich auf der Sängerfestbühne in Vilnius (um dort was zu machen?). Unterdessen schuften die Arbeiter weiter, um am Ende unmotiviert mit Konfetti um sich zu werfen. Jugendliche spielen spätabends Streetball vor einsamen Basketballkörben, der Sänger singt "Time for a marching parade".

Es sieht ein wenig so aus, als müssen die Leute erst noch "aus ihren Löchern" geholt werden. Kann das sein, im basketballverrückten Litauen? Und wo ist der Film und die Musik für die internationalen Gäste der EM?

14 Juni 2011

Litauer sind Kinomuffel

Kaum ein Litauer sieht noch einen Film im Kino - das weisen die Ergebnisse europaweiter Befragungen aus, die jetzt als "Kulturstatistik-Handbuch" des Jahres 2011 veröffentlicht wurden (EUROSTAT).
Litauische Kinos als Investitionsruinen - wie hier in Vilnius -
plus fehlende einheimische Produktionen? Litauer
interessieren sich nur wenig für die Vorstellungen auf der
großen Leinwand.
Dem zufolge gaben fast 80% der befragten Litauerinnen und Litauer an, innerhalb von 24 Monaten überhaupt nicht im Kino gewesen zu sein. Der Rest der Befragten geht einmal bis sechsmal im Jahr ins Kino, keinesfalls mehr. Damit unterscheidet sich Litauen auch kaum von den beiden baltischen Nachbarn, die ebenfalls ganz unten in der "Kinogängerrangliste" der Eurostat-Erhebungen zu finden sind. In Deutschland sind es 54%, die ein- bis sechsmal pro Jahr ins Kino gehen (ca 45% gehen aber auch gar nicht). Bei den 25 bis 34-Jährigen liegt die Zahl der Kinogänger in Litauen bei 38% (Deutschland = 78%), bei den über 55-jährigen nur noch bei 9% (Deutschland = 34%).
Unter 10% der Menschen mit geringem Einkommen gehen in Litauen ins Kino, in Deutschland liegt diese Zahl (wobei der Vergleich der Einkommen relativ ist) noch bei über 30%. 

Die kürzlich veröffentlichte Untersuchung greift allerdings auf die Zahlen des Jahres 2006 zurück - also noch vor der Wirtschaftskrise. Anzunehmen ist daher, dass die Zahl der litauischen Kinogänger eher noch gesunken sein könnte. 

Etwas anders sehen die Vergleichszahlen aus, wenn nach Büchern gefragt wird. Über 50% aller litauischen Männer haben in 24 Monaten dieser Statistik nach mindestens ein Buch gelesen (Deutschland: ca 67%), bei den Litauerinnen liegt diese Zahl sogar bei über 75% und erreicht damit fast die der Buchleserinnen in Deutschland.

Singende und tanzende Litauer - nur eine Legende?
Vielleicht würden einige angesichts entsprechender Erfahrungen in Litauen annehmen, dass wenigstens bei der Frage nach der Teilnahme an öffentlichen Aufführungen die Ergebnisse anders aussehen (Tanzen, Singen, Schauspielern oder Musik machen). Doch nur die Estinnen und Esten glänzen hier mit Aktivität: ganze 40% können eigene Aktivitäten in diesen Bereichen vorweisen, wogegen die Litauer/innen mit 8% sogar hinter den (Durchschnitts-)Deutschen mit 11% zurückfallen (Lett/innen durchschnittlich 9%). 
Bei den jüngeren Litauer/innen ist die kulturelle Aktivitätsrate mit 10% (25-34jährige) sogar noch höher als bei den über 55-Jährigen (nur 7% nahmen mindestens einmal pro Jahr an einer solchen Aktivität teil). Eine starke Abhängigkeit scheint hier bei der Schulbildung zu bestehen: nur 2% mit geringer Schulbildung, aber 16% aller Litauer/innen mit höherer Schulbildung singen, tanzen, spielen Theater oder machen Musik (ähnliche Zahlen in Lettland, aber in Estland besteht keine so große Abhängigkeit von kulturellen Aktivitäten und Bildung). Sollte daraus geschlossen werden können, dass in Litauen (wie in Lettland) auch Singen und Tanzen inzwischen Kursgebühren kosten, in Estland aber nicht? Die vorliegenden Untersuchungsergebnissen geben dazu leider keine Auskunft.

Nur wenig anders sehen die Antworten aus, wenn nach Malen, Zeichnen oder Computergrafik gefragt wird. Mit durchschnittlich 14% nehmen aber auf diesem Gebiet proportional genauso viele Litauer/innen an derartigen öffentlichen Aktivitäten teil wie in Deutschland (nur 11% in Estand).

01 Juni 2011

Abtauchen in die Ostsee

Besonders für Kinder und Jugendliche gedacht ist eine neu geschaffene, gemeinsame Webseite der Meeresmuseen an der Ostsee. Virtuelle Besucherinnen und Besucher haben auf dieser gemeinsamen Plattform die Chance, die Welt unter Wasser und in den verschiedenen Museen in deutscher, aber auch in litauischer, englischer, polnischer und russischer Sprache kennenzulernen. Natürlich finden sich Informationen dazu, was es in den verschiedenen Museen zu sehen gibt, aber vor allem wird die (Wasser-)Welt der Ostsee verdeutlicht:
- im Bereich "Aquarium" werden Tierarten und Lebensräume vorgestellt, 
- im Bereich "Fragen" können Antworten auf interessante Fragen gesucht werden ("Warum tragen Matrosen Schlaghosen?" - "Können Frauen auch Piraten sein?")
- im Bereich "Wusstest Du?" werden Zahlen und Fakten zur Ostsee vorgestellt
- im Bereich "Geschenke" gibt es meeresdesignte Bildschirmschoner
- im Bereich "Malbücher" lassen sich Tiergrafiken bunt ausmalen
- und für den Bereich "Galerie" können Fotos vom Museumsbesuch eingeschickt werden, um sie hier allen zugänglich zu machen
- und, nicht zu vergessen, im Bereich "Spiele" gibt es vier Möglichkeiten, sich spielerisch mit der Meereswelt zu beschäftigen.

Gemeinsame Webseite BALTIC MUSEUMS

Wer sich weiter traut zum litauischen Meeresmuseum, findet dort immerhin - außer Litauisch - auch einige Infos in Englisch

17 Mai 2011

Hanse-Kaunas

Wenn von Hansestädten die Rede ist, denken die meisten Deutschen vielleicht an Hamburg, Bremen, Lübeck oder Wismar. Welche Städte aus anderen Ländern historisch zum Hansebund gehörten, das ist schon eine schwierigere Denkaufgabe oder Wissensfrage. Städte im Gebiet der heutigen Staaten Estland oder Lettland, die im Mittelalter im Einflußbereich von Deutschem Orden und Papst lagen, gehörten mit größerer Selbstverständlichkeit zum Hansebund wie im stolzen Litauen. Einzig Kaunas kann in Litauen auf die Existenz eines Hansebüros zurückblicken - fast hundert Jahre lang war dies im 15. und 16.Jahrhundert der Fall (siehe Webinfos der Stadt Kaunas).

Auch in Vilnius ist dieser Tage Werbung
für einen Besuch in Kaunas zu sehen
Seit einigen Jahren nun geht die Organisation eines "Hansetags der Neuzeit" reihum. Die im "Städtebund der Hanse" zusammengeschlossenen Städte haben das Stichwort "Hanse" als verbindendes Element neu entdeckt. Kaunas ist vom 19. - 22.Mai 2011 nun der Treffpunkt und bietet eine gute Gelegenheit, Kulturgeschichte, Markttreiben, Gesang und Tanz und ein wenig politische Kontakte zusammenzubringen. So ist Kaunas auch von Vilnius aus gesehen für einige Tage "Hansehauptstadt".

Unterschiedlich fällt das Echo in den beteiligten Städten aus Deutschland aus. Der Eindruck scheint sich zu verfestigen, dass gerade die eher kleinen (ehemaligen) Hansestädte die Hansetage Gelegenheit zum persönlichen Gedankenaustausch, gepaart mit ein bischen Selbstdarstellung, gerne nutzen. In der "Neuen Westfälischen" ist nachzulesen, wie Manfred Schürkamp seine Erfahrungen mit dem "Bazillus Hanse" beschreibt (Herford wird 2013 selbst Austragungsort der Hansetage sein). Ganze 74 Personen zählt die Delegation aus Herford, aber Schürkamp muss dennoch die Frage über sich ergehen lassen, ob denn nicht eher "richtige" Hansestädte wie Hamburg oder Lübeck Hansetage feiern sollten. Vielleicht füllten Städte wie Herford ja auch Lücken wie zum Beispiel von Bremen, die (trotz insgesamt 35 anmeldete Städteteilnehmer aus Deutschland) wieder einmal fehlen.

Oder bedarf es mutiger Repräsentanten, die auch den Ehrgeiz haben, einen internationalen Hansetag der Neuzeit selbst zu veranstalten? Herfords Hansevertreter Schürkamp schätzt die zu erwartenden Kosten für Herford 2013 auf immerhin 500.000 Euro. Herford hofft dies aus Sponsorengeldern finanzieren zu können und setzt auf touristische Werbeeffekte. 2012 bereitet sich Lüneburg auf die Durchführung des internationalen Hansetags vor.

Fußgängerzone von Kaunas: neuerdings wird mit
kostenlos nutzbarem drahtlosen Internetzugang
geworben
Ob Ähnliches auch Kaunas dieses Jahr zu Gute kommen kann, muss momentan bezweifelt werden. Der unter jungen Leuten beliebte Billigflieger Ryanair hat einige Flüge wieder von Kaunas nach Vilnius verlegt, per Bahn ist Kaunas international schlecht angebunden, und auch die neu zwischen den drei baltischen Staaten kursierenden "Komfortbus"-Verbindungen fahren komplett an Kaunas vorbei direkt nach Vilnius. Setzt man vielleicht komplett auf Autotouristen? Meine neue Erfahrung als Liebhaber von Bus und Bahn am zentralen Busbahnhof der Hauptstadt Vilnius: bei Versuch eine Busfahrkarte nach Kaunas zu erwerben stieß ich kürzlich auf fünf Verkaufsbüros, von denen nur eines besetzt war, die Angestellte aber bei meinem Erscheinen schnell auch noch in die Pause flüchtete. Die verbliebene Dame am Infoschalter weigerte sich unwirsch etwas anderes außer Litauisch zu sprechen - ähnliche Erlebnisse, bei denen potentielle Kunden schnell wie größtmögliche Ärgernisse des geruhsamen (und wahrscheinlich schlecht bezahlten) Alltags gelten, hatte ich zuletzt in den noch sowjetisch geprägten frühen 90er Jahren. Sind alle Fachkräfte mit Sprachkenntnissen bereits ins Ausland abgewandert?

Kaunas hofft also zumindest am kommenden Wochenende auf ein fröhliches, buntes Fest mit vielen Gästen. Ich bin übrigens der Meinung, Kaunas könnte auch noch mehr machen aus seiner reichhaltigen jüdischen Vergangenheit. Die Stadt besteht nun wirklich aus mehr als nur der Fußgängerzone (wo die vielen Hansedelegationen sicherlich gut Platz finden werden). Sollte einmal die historische Aufarbeitung der Schrecken des Holocaust auch in Litauen unumstrittener stattfinden können, wird man vielleicht auch über die Darstellung von Juden als Opfer der Massenvernichtung hinauskommen können. Kulturelle Wurzeln sind an vielen Stellen zu ahnen, auch wenn keine fremdsprachliche Erläuterungstafeln helfen. Angesichts der in neuester Zeit inflationären Aufstellung von Gedenktafeln für "national wichtige" Litauerinnen und Litauer muss ja irgendwann dieser nationale Geltungsdrang entweder den Gästen oder den Litauern selbst etwas langweilig werden.
Baustelle des neuen Basketballstadions in Kaunas
In wenigen Wochen jedenfalls - vom 31.August bis 18.September 2011 -  steht ein weiteres Ereignis in Kaunas an, dass wahrscheinlich spielend die Dimensionen des Hansetags sprengen wird: die Europameisterschaft im Basketball steht an. 24 Teams werden nach Litauen anreisen, die Endrunde - inklusive des EM-Endspiels - wird in der im Bau befindlichen neuen Basketballhalle in Kaunas stattfinden. Also, zumindest für diesen Sommer wird sich Kaunas dem Gästezuspruch einigermaßen sicher sein können.

Webseite Hansetag Kaunas
Infos zur Eurobasket 2011

Vorberichte zum Hansetag 2011 aus der deutschen Lokalpresse: Münster, Herford, Lübeck, Halle, Lemgo, Greifswald, Wesel, Kyritz, Lippstadt, Brilon.

08 April 2011

Die Freiheit des Wortes

Der Litauer Gintaras Visockas ist seit 20 Jahren Journalist und hat viel Erfahrung. Er war Korrespondent in Tschetschenien während des ersten Krieges. Nun hat er im eigenen Land ein großes Problem. Über den Präsidentschaftskandidaten der Wahl von 2009, den ehemaligen Sowjetgeneral und Kampfsportler Česlovas Jezerskas schrieb er, dieser sei wie alle Kampfsportler vom KGB kontrolliert worden. Keineswegs habe er behauptet, der Politiker habe für den KGB gearbeitet. Der Artikel brachte ihm nun eine Verleumdungsklage ein, die vom Gericht zu seinen Ungunsten entschieden wurde. Dieses sagte nämlich, der Leser habe den Text anders verstehen müssen. Die Geldstrafe für Visockas beträgt 10.000 Euro, doch so viel Geld kann der Journalist nicht aufbringen, so wird er wohl ersatzweise für 40 Tage ins Gefängnis müssen. Visockas sagt, für Journalisten sei das leben sowieso schwierig, es werde wenig verdient und Druck von allen Seiten sei hoch. Mit dem Urteil komme es jetzt aber noch schlimmer, es ginge nicht mehr nur darum, was jemand schreibt, sondern wie es ein Durchschnittsleser eventuell verstehen könnte.

Der Journalistenverband ist ebenfalls desillusioniert. Die Justiz handele wie zur Sowjetzeit, in einem Fall werde streng geurteilt, im anderen geschehe nichts.

Visocskas sagt, er werde nun als erster Journalist in seinem Land nach dem Strafgesetzbuch verurteilt, was es in keinem demokratischen Land gebe. Er sei damit vorbestraft und könne beispielsweise faktisch nicht mehr als Politiker kandidieren, so er das eines Tages wolle.

01 April 2011

Deutsch am Engelsplatz

= hinter, und upė = Fluss - solche Begrifflichkeiten sind allen Städten bekannt, die an Flüssen liegen. Oft gibt es einen Stadtkern auf der einen und einen später entstandenen neueren Stadtteil auf der anderen Seite des Flusses. Vilnius ist anders. Hier darf die Neris in aller Ruhe vorbeifließen - wichtiger fürs "diesseits" und "jenseits" ist die kleine Vilnelė. Die Brücken, die hier hin- und herüber führen werden gelegentlich durch Zollstationen der freien Republik Užupis garniert. Einer Republik, deren Paragraph 1 der eigenen fantasiereichen Verfassung auch das Leben an den Ufern des Flüsschens regelt: "Jeder Mensch hat das Recht, am Fluss Vilnelė zu wohnen, und die Vilnelė hat das Recht, an jedem vorbei zu fließen.

Heute feiert die Freie Republik Užupis ihren 14.Unabhängigkeitstag. "Deutsche Welle" ist diesmal das Motto, denn Jahr für Jahr wird der Verfassungstext in einer weiteren Sprache offiziell ausgehängt und enthüllt. Nun also auch Deutsch. Seit 10 Jahren gibt es auch den "Freiheitsengel", der schnell zu einem der bekanntesten Symbole in Vilnius wurde. Bis mindestens hierher wagen sich fast alle Altstadttouristen herauf, bis hierher wird der Weg wohl in den meisten Reisebüchern beschrieben sein. 

Aber was macht eigentlich den Reiz dieses Stadtteils heute noch aus? Früher einmal haben auch viele Juden hier gelebt - Vergangenheit, verdeckt durch die Wechselfälle und Schrecken der Geschichte. Heute sind die Užupis-Einwohner eher Verfechter von Gelassenheit, Liebe, Irrtum und Gemächlichkeit. Dass der Dalai Lama einer der offiziell ernannten Botschafter der Republik ist, fand ehemals nicht nur der Spiegel interessant. Zur heutigen Feier trug Birgit Fular aus Konstanz die Kosten der neuen Verfassungstafel, ein Knabenchor aus Augsburg verspricht Gesang, und die Gastgeber Brezeln, Würstchen mit Sauerkraut und Weißbier. 

Wohlan denn! Auf dass jeder, der sich im Geiste vereinigt, verbunden oder inspiriert fühlt, den Tag auf eine würdige Weise begehe!

TEXT DER VERFASSUNG VON UŽUPIS
1. Jeder Mensch hat das Recht, am Fluss Vilnelė zu wohnen, und die Vilnelė hat das Recht, an jedem vorbei zu fließen.
2. Jeder Mensch hat das Recht auf heißes Wasser, Heizung im Winter und auf ein Ziegeldach.
3. Jeder Mensch hat das Recht zu sterben, ist jedoch hierzu nicht verpflichtet.
4. Jeder Mensch hat das Recht, sich zu irren.
5. Jeder Mensch hat das Recht, einzigartig zu sein.
6. Jeder Mensch hat das Recht zu lieben.
7. Jeder Mensch hat das Recht, nicht geliebt zu werden, jedoch nicht unbedingt.
8. Jeder Mensch hat das Recht, weder berühmt noch bekannt zu sein.
9. Jeder Mensch hat das Recht, faul oder untätig zu sein.
10. Jeder Mensch hat das Recht, eine Katze zu lieben und für sie zu sorgen.
11. Jeder Mensch hat das Recht, für seinen Hund zu sorgen bis einer von beiden stirbt.
12. Jeder Hund hat das Recht, Hund zu sein.
13. Keine Katze ist verpflichtet, ihren Hausherren zu lieben, aber in schweren Momenten muss sie ihm beistehen.
14. Jeder Mensch hat das Recht, manchmal nicht zu wissen, ob er Verpflichtungen hat.
15. Jeder Mensch hat das Recht zu zweifeln, ist jedoch hierzu nicht verpflichtet.
16. Jeder Mensch hat das Recht, glücklich zu sein.
17. Jeder Mensch hat das Recht, unglücklich zu sein.
18. Jeder Mensch hat das Recht zu schweigen.
19. Jeder Mensch hat das Recht zu glauben.
20. Kein Mensch hat das Recht, Gewalt auszuüben.
21. Jeder Mensch hat das Recht, seine Nichtigkeit und seine Größe zu begreifen.
22. Kein Mensch hat das Recht, nach der Ewigkeit zu trachten.
23. Jeder Mensch hat das Recht zu verstehen.
24. Jeder Mensch hat das Recht, nichts zu verstehen.
25. Jeder Mensch hat das Recht, verschiedenen Nationalitäten anzugehören.
26. Jeder Mensch hat das Recht, seinen Geburtstag zu feiern oder nicht zu feiern.
27. Jeder Mensch ist verpflichtet, sich an seinen Namen zu erinnern.
28. Jeder Mensch darf mit anderen teilen, was er hat.
29. Kein Mensch kann mit anderen teilen, was er nicht hat.
30. Jeder Mensch hat das Recht auf Geschwister und Eltern.
31. Jeder Mensch darf frei sein.
32. Jeder Mensch ist für seine Freiheit verantwortlich.
33. Jeder Mensch hat das Recht zu weinen.
34. Jeder Mensch hat das Recht, unverstanden zu bleiben.
35. Kein Mensch hat das Recht, einen Anderen schuldig zu machen.
36. Jeder Mensch hat das Recht auf Persönlichkeit.
37. Jeder Mensch hat das Recht, keine Rechte zu haben.
38. Jeder Mensch hat das Recht, keine Angst zu haben.
39. Besiege nicht.
40. Wehre dich nicht.   
41. Gib nicht auf. 


Neuigkeiten aus Užupis (Užupio žinios / Litauisch)


27 März 2011

Grüne Partei gründet sich in Litauen


Am vergangenen Sonntag gründete sich in Vilnius, Litauen die Partei der grünen Bewegung Litauens, Lietuvos žaliųjų sąjūdžio partija, in einem Hotel unterhalb des Fernsehturms. Es waren ungefähr 100 Mitglieder und Zuschauer gekommen, um der Parteigründung beizuwohnen.
Inhaltlich liegt der Schwerpunkt der Partei auf der Energiepolitik, besonders auf einer Ablehnung von AKWs in Litauen und den Nachbarstaaten.
Personell spaltet sich die Partei in eine Gruppe um ehemalige Sąjūdis-Aktivisten, also der Bewegung, die Litauen aus der Sowjetunion in die Unabhängigkeit führte, und einer Gruppe von mehrheitlich jungen Menschen, die in den Jahren der Unabhängigkeit politisch sozialisiert worden sind. Die personellen Konflikte wurden jedoch von einer autoritären Sitzungsleitung weitgehend unterdrückt und die Parteigründung ohne Verzögerung und mit nur teils demokratischen Wahlen durchgezogen.

Die litauische Partei reicht personell, wie erwähnt, bis in die Zeit der Unabhängigkeitsbewegung zurück, als sich drei der wichtigen Akteure der neuen Partei (Juozas Dautartas - der Parteivorsitzende, Saulius Lapienis und Saulius Pikšrys- beide Sekretäre des Vorsitzenden und im Vorstand, sowie Parteirat) kennenlernten. Die eigentliche Geschichte der Partei begann aber erst vor zwei Jahren, als Dautartas und Lapienis sich zusammentaten, um eine Partei zu gründen. Die Gruppe um sie herum wuchs mit der Zeit und so auch die Anzahl der Unterstützer. Es ist jedoch keine Partei, die einer großen Bewegung entsprungen wäre. Mit der Ausnahme einiger Funktionäre, die in kleinen Umweltorganisationen oder in der Verwaltung tätig sind, ist die Mehrheit der Mitglieder nicht organisiert.
Ursprünglich wollte sich die Partei schon vor den Kommunalwahlen gründen, aber die erhöhten Hürden für eine Parteigründung, verzögerten den Prozess.
Die stimmberechtigten Mitglieder auf der Sitzung vertraten nicht nur ihre Meinung, sondern auch die Anzahl der Personen, die sie für die Partei als Unterstützer geworben hatten. Dabei darf man nicht glauben, dass es ca. 2.500 Menschen in Litauen gibt, die eine grüne Politik unterstützen. Oftmals gingen die grünen Aktivisten einfach auf ihrer Arbeit umher und brachten Mitarbeiter, Freunde und Bekannte dazu die erforderlichen Papiere zu unterzeichnen.
Dieses Prozedere führte dazu, dass bei der Parteigründung einige Anwesende über 40 Stimmen verfügten, andere nur über eine. Aus demokratietheoretischer Sicht, war dies das erste Problem des Tages, aber es sollte nicht das letzte sein.
Schon in der letzten Sitzung der Initiativgruppe hatten die zentralen Figuren, besonders Saulius Lapienis, darauf hingewiesen, dass es an dem Sonntang nur über die formale Gründung der Partei und um nichts anderes gehen sollte. Dementsprechend führte Lapienis, der zum Sitzungleiter bestimmt worden war, auch die Gründungsveranstaltung. Wortmeldungen, die auf Diskussionen aus waren oder Alternativen vorstellen wollten, wurden rüde unterbrochen, oder erst gar nicht das Wort erteilt. Freie Rede gab es nur für die, die entweder die Mehrheitsmeinung vertraten, oder dann nach abgeschlossener Gründung, die Zeit bis zur Pressekonferenz zu füllen hatten. Dieses Vorgehen wurde mir am Rande der Gründungsveranstaltung mit den Erfahrungen aus der Sąjūdiszeit erklärt: der Erfahrung, dass es in einer jungen Demokratie lange, unproduktive Diskussionen gäbe und am Schluss immer ein Anführer die Entscheidung zu treffen habe. So wurde es auch hier gehandhabt, ohne dass sich jedoch erweisen konnte, ob die Diskussionskultur in Litauen in den letzten 20 Jahren verändert hat.
Aber nicht nur im Verlauf der Sitzung, sondern auch in der innerparteilichen Struktur, zeigten die Grünen stark undemokratische Züge. Dies gilt besonders für die Satzung. Formal ist laut Satzung die nationale Mitgliederversammlung das höchste Gremium der Partei. Diesen Status gab die Mitgliederversammlung aber auf, als sie der Satzung zustimmte. Denn sie ist, trotz anderslautender Formulierung alleine auf den Parteivorsitzenden zugeschnitten.
Der wurde am Sonntag, ebenso wie alle anderen Parteiorgane für vier Jahre gewählt. Das besondere am Amt des Parteivorsitzenden ist, dass er alleine Vorschlagsrecht auf seine Sekretäre, den Parteivorstand und fast den gesamten Parteirat hat. Insofern war spätestens mit der Wahl des Parteivorsitzenden alle Hoffnung für die parteiinterne Opposition der 'fortschrittlichen Grünen' (Progresyvieji zalieji) begraben.
Am Ende des Tages war die Opposition, die ungefähr ein Viertel der Anwesenden umfasste, aber nur über etwas mehr als 10% der Stimmen verfügte einzig im Parteirat vertreten, mit fünf Mitgliedern von insgesamt 48. Die Opposition wird hier deshalb so sehr betont, weil sie in ihren Vorstellungen, denen einer westeuropäischen Partei am nächsten kommt. Andererseits, ist sie aber nicht nur in der Stimmenzahl der Mehrheit unterlegen gewesen. Denn während besonders die drei oben genannten seit rund 25 Jahren Politik machen und somit auch in der Organisation von Mehrheiten geübt sind, ist dies für die Opposition ein neues Feld - dementsprechend schlecht sind die progressiven Grünen organisiert.
Für die Mehrheit der Partei, die ihre Vorstellungen von Politik nicht aus Westeuropa, sondern aus der litauischen Gegenwart bezieht, besteht grüne Politik alleine darin, die Ökologie betreffende Politikziele durchzusetzen. Das ist zuwenig für eine Partei, die für sich selbst in Anspruch nimmt eine grüne Partei nach westeuropäischen Vorbild zu sein.

Aber am Rande der Sitzung wurden sowohl eine Überarbeitung der Satzung, als auch eine mögliche Neubesetzung der Institutionen nach einem Jahr versprochen. Es bleibt also abzuwarten, ob die Grünen mehr sein werden, als nur eine traditionelle litauische Partei (also eine Organisation zur Erlangung von Parlamentsmandaten für einige Parteiführer) mit ökologischen Zielen, oder ob sie sich wirklich dem Ziel der westeuropäischen Grünen annähern kann. Dies wird besonders für die Wahlen in Litauen von Bedeutung sein. Denn generell ist - nicht ohne Grund - das Ansehen der Parteien in Litauen sehr gering. Eine Abgrenzung, die alleine auf einer anderen Energiepolitik beruht, wird der neuen grünen Partei wohl kaum zu einem Wahlerfolg helfen. Erfolg kann sie nur dann haben, wenn sie das auch in Litauen aufkommende grüne Lebensgefühl mit einem anderen Politikverständnis verbindet, in dem sich die in den Großstädten entwickelnde Mittelschicht repräsentiert sieht.

Inhaltlich ist über die grüne Partei nicht viel zu sagen. Es gibt zwar ein Programm, aber dieses ist, wie offen zugegeben wurde, stark an die Programme der westeuropäischen Grünen angelehnt. Was nun wirklich die Meinung der Mitglieder ist - von der Energiefrage abgesehen, wurde bisher nicht deutlich. Oder anders gesagt, nur weil es in den Parteiwerten und im Parteiprogramm steht, muss es nicht wirklich auch von den Parteimitgliedern vertreten werden. Denn schliesslich erklärten sich die Grünen am selben Tag, als sie auf die Linie der gelenkten Demokratie nach litauischen Standard einschwenkten, ihre Partei, zu einer Partei der partizipativen Demokratie.

16 März 2011

Moratorium mit Maischberger

Gestern abend wurde in der ARD zum wiederholten Male über die Folgen des Atom-Gau's in Japan diskutiert. Sandra Maischberger versammelte Menschen, und alle machten besorgte Gesichter. Kurz zuvor hatte die Regierung Merkel überraschend ein "Moratorium" verkündet, und damit die zuvor auf rechtlich zweifelhaften Wegen durchgesetzten Laufzeitverlängerungen für die deutschen Schrottreaktoren selbst ad absurdum geführt.
Aber hier soll es ja um Litauen gehen. Ja, leider muss zum wiederholten Male - statt für die schöne litauische Natur und Landschaft werben zu können, muss von der viele deutsche Urlauber eher abschreckende Vision von Litauen als Atomstaat geredet werden. Ob es etwas nützen würde, Beschwerde bei der ARD einzureichen? Beim wahrscheinlich redaktionell hastig produzierten Blick auf Europas Atommeiler wurde Litauen "unverschämterweise" ausgespart. Litauen ohne Atomkraft? Ach ja, Ignalina ist nun ja endlich abgeschaltet. Russland bleibt auf der Karte gleich ganz ausgespart. Aber was ist das? Frau Maischberger hat ein AKW im Osten Lettlands entdeckt. Wahrscheinlich wird sie sich danach nicht mehr in Litauen sehen lassen können (falls sie das je vorgehabt haben sollte). 

Nein, so schnell geht es nun doch nicht mit der Versetzung oder dem Neubau baltischer Atompläne. Da ist doch tatsächlich bei der Nachrichtenagentur ELTA der unglaubliche Rat von Ministerpräsident Kublilius (an die Japaner?) zu lesen: "Es ist besser, Atomkraftwerke in Regionen wie Litauen zu bauen". Er lehnte es aber ab dazu Stellung zu nehmen ob sich die möglichen Schlußfolgerungen aus der auf Erdbeben und Tsunami folgenden Atomkatastrophe in Japan auch auswirken könnten auf Baukosten für eigene Atombaupläne. Bis Ende 2010 hatte Litauen vergeblich um Investoren für ein neues Atomkraftwerk geradezu gebettelt; es hatte auch Gerüchte um einen Investor aus Asien gegeben - das wäre dann eine ganz umgekehrte Verkettung der Sachzusammenhänge gewesen. 

Vom estnischen Wirtschaftsminister Juhan Parts dagegen ist heute immerhin zu hören, auch die gerade neu gewählte estnische Regierung habe auf die möglicherweise geänderte öffentliche Meinung bezüglich der Atomenergie Rücksicht zu nehmen. Die gerade mit Wählermehrheit bestätigten beiden Parteien hatten den Ausbau der Atomenergie und sogar den Bau einer eigenen AKW in Estland im Wahlprogramm stehen. - Für Litauen gilt das nicht? Das litauische Fernsehen toleriert immerhin in Diskussionssendungen auch Atomkritiker (link), während litauische "Experten" notorisch die absolute und weltbeste Sicherheit für das Projekt voraussagen, was in Litauen gebaut werden soll (kommt mir bekannt vor). 

Der schwedische Regierungschef Reinfeld, gerade auf Besuch in Litauen, warnt dort vor einem "übereilten Run auf fossile Brennstoffe". Na super! Im Gegensatz zum letzten großen Tsunami scheinen diesmal nicht so viele Schweden am Unglücksort zu sein. Und sein Regierungschef Kubilius sieht Fehler in der Planung atomarer Anlagen - allerdings nur bei den beiden nahe der litauischen Grenze geplanten AKWs in Belorussland und Kaliningrad. Russlands Regierungschef Putin seinerseits - gerade zu Gast bei Lukaschenko - verspricht diesem russischen Investitionen für neue AKWs. Darius Semaska, Berater der litauischen Präsidentin Grybauskaite, wird mit der Aussage zitiert der "psycholiogsche Effekt" der Japan-Krise könne durch erhöhte Investitionen in Reaktorsicherheit zu erhöhten Energiepreisen führen. Vielleicht denkt auch jemand wenigstens diesen Gedanken zu Ende? Atom = billig und gut, das kann nicht sein.

Lesenswert übrigens das, was bei BLOOMBERG über einen Besuch des stellvertretenden litauischen Energieministers Arvydas Darulis am 25.Februar in Tokio zu lesen ist. Japan verfüge über einen sehr hohen Standard nulearer Sicherheit, lobte Darulis. Dieser würde Litauen in die Lage versetzen die hohen Umweltanforderungen zu erfüllen, welche von der EU vorausgesetzt würden. Gesagt und protokolliert am 25.Februar 2011 in Tokio.

11 März 2011

Wahlergebnisse der Regionen

Die litauische Wahlkommission gab die Ergebnisse der Kommunalwahlen vom 27.Februar 2011 bekannt. Demnach haben die Sozialdemokraten landesweit insgesamt 328 Mandate gewonnen, gefolgt von der Liste der Christdemokraten und der Vaterlandsunion mit 249 Mandaten und der Arbeitspartei mit 165 Mandaten. Die Partei "Ordnung und Gerechtigkeit" erreichte 155 Gemeinderatssitze und die litauische "Bauern- und Volksunion" 147. Vor allem in Vilnius schnitt die russisch-polnische Wahlliste sehr gut ab und erreichte landesweit 61 Mandate, davon allein die polnische Union 11 in der Hauptstadt. In Vilnius erreichte die Liste von Ex-Bürgermeister Arturas Zuokas mit seiner "Vilnius-Union" die meisten Sitze.
Die Wahlbeteiligung war mit 44.08% sehr gering.

24 Februar 2011

Starke Weiblichkeit

Ausnehmend weibliche Kunst hat seit der gestrigen Eröffnung Einzug gehalten bei der Galerie "Mare Liberum" am Hansaplatz 8 in Hamburg. Die Figuren und Objekte der litauischen Künstlerin Juratė Kazakeviciūtė lassen die Betrachter nicht lange im Ungewissen: eine betont weibliche Sichtweise wird geboten, dabei in einer so leicht verständlichen künstlerischen "Sprache" dargestellt, die manche Besucher unsicher werden lässt - so erzählt die Künstlerin. "Wer sich weniger mit sich selbst, dem eigenen Körper, und der Normalität anderer Körper auseinandergesetzt hat, dem können meine Figuren auch manchmal Angst machen," gibt sie zu. Nein, es geht hier ausdrücklich nicht um das Herausstellen weiblicher Schönheit. "Ich bin dagegen, alles immer nur nach dem Maßstab von Barbiepuppen darzustellen," sagt Kazakeviciūtė

Aber  auch wer nur an den Schaufenstern der Galerie vorbeiflanieren sollte, hat hier etwas verpasst. Ungleich vieler anderer Austellungen ist hier nämlich "anfassen erlaubt". Es sind nicht einfach Puppen oder Skulpturen, die sich hier dem Betrachter darbieten, es sind mühsam aus verschiedenen synthetischen, weichen (weiblichen) Stoffen aufgebaute Körper, in allen Gliedmaßen mit Draht versehen, so dass sich Körperhaltung, Blickrichtung und Stellung verschiedener Figuren zueinander verändern lassen. Eine Berührung der Oberfläche gleicht beinahe einer Hautberührung. Jede neue Ausstellung, jede Raumumgebung kann so auch dieselben Figuren in ganz andere Beziehung zueinander setzen.  
Fast besorgt fragt Juratė Kazakeviciūtė, die aus dem litauischen Druskininkai stammt und in Kaunas studierte, Publikumsreaktionen ab. "Ja, manchmal werde ich gefragt, warum ich so 'hässliche" Figuren mache. Aber ich finde sie nicht hässlich! Es sind alle wie meine Kinder." Kazakeviciūtė's Frauen blicken - fast wie zum Kommentar - verträumt ins Nirgendwo. Vielleicht werden sich Besucher - sollten sie sich allein befinden in der kleinen Galerie Mare Liberum - vielleicht wirklich ganz für sich allein mit diesen Figuren unterhalten können. Ganz für sich, Männer wie Frauen. Die Ausstellung ist noch bis zum 25.März 2011 geöffnet.

16 Februar 2011

Heidelberg flaggt

Heute, am Jahrestag der litauischen Unabhängigkeitserklärung vom 16.Februar 1918, hängt die litauische Flagge vor dem Rathaus von Heidelberg. Warum? Städtepartnerschaften gibt es zwar in Heidelberg auch, aber (noch) nicht mit baltischen oder litauischen Partnern.

Damit soll ein Zeichen der Völkerverständigung in einem zusammenwachsenden Europa gesetzt werden, heißt es in einer Erklärung der Stadtverwaltung. Und weiter wörtlich: "Viele Menschen aus Mitgliedsländern der Europäischen Union (EU)  leben und arbeiten in Heidelberg. Das hängt mit Heidelbergs internationaler Ausrichtung und mit den zahlreichen weltweit beachteten Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen in Heidelberg zusammen. Die EU-Bürger/-innen fühlen sich in Heidelberg wohl und tragen entscheidend zu der besonderen Atmosphäre der Toleranz bei, die in Heidelberg herrscht."

An den Nationalfeiertagen aller EU-Mitgliedsstaaten hisst die Heidelberger Stadtverwaltung vor dem Rathaus die Nationalflagge des entsprechenden Landes sowie die europäische Flagge.
Ganz im Gegensatz dazu müssen aber offenbar andere Dezernate der Stadtverwaltung noch viel dazulernen: so weist der "Bericht zur sozialen Lage in Heidelberg" (im Internet als PDF in der Fassung mit angeblichem Stichtag des 31.12. 2006 erhältlich) Litauer noch unter "Nicht-EU-Ausländern ehemaliger SU-Staaten" aus und schmeisst diese in einen Topf mit Armenien, Aserbeidschan, Estland (!), Georgien, Kasachstan, Krigisien, Lettland (!), Republik Moldau, Russische Förderation, Tatschikistan, Turkmenistan, Ukraine, Usbekistan und Belarus zusammen. Alle die für eine solche Darstellung Verantwortlichen sind wohl heute mal besonders aufgefordert, sich zur litauischen Fahne und zum EU-Mitgliedsland seit 2004 ein paar mehr Gedanken zu machen ....

Immerhin gibt es aber in Heidelberg auch eine Förderung in Höhe von bis zu 1500Euro für integrationsfördernde Veranstaltungen (siehe Infos des Ausländerbeirats) - sicher eine gute Unterstützung für interkulturelle Gruppen, die sich selbst und ihr Herkunftsland in Heidelberg einmal darstellen möchten.
2007 wurde außerdem auch schon einmal Herausragendes zwischen Heidelberg und Litauen prämiert: die Litauerin Angele Jelagaite wurde mit dem DAAD-Preis für ausländische Studierende aufgrund exzellenter akademischer Leistungen und besonderes kulturelles und soziales Engagement ausgezeichnet und setzte sich für die Hochschulpartnerschaft zwischen der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und der Universität Vilnius ein.