19 Juli 2011

Eine Frage der Geschwindigkeit

Gut, das Ähnliches nicht während des Kulturhauptstadtjahres 2009 zwischen Litauen und Österreich passierte - da kooperierten Linz und Vilnius einträglich und realisierten manches Kulturprojekt trotz Wirtschaftskrise. Litauen ist verärgert über Österreich - und Österreich über Litauen? "Ein Fall wie Ratko Mladic" sagt Litauens Außenminister Audronius Ažubalis (KURIER). 

Es geht um Mikhail Golowatow, einen 62-Jährigen Ex-KGB-Offizier und ehemaligen Kommandant der sowjetischen Spezialeinheit „Alpha“. Gesucht per internationalem Haftbefehl, ausgestellt am 18.Oktober 2010, und am 14.Juli am Flughafen Wien-Schwechat in Österreich festgenommen. Er wird verdächtigt, am brutalen Vorgehen der benannten Sondereinheiten am 13.Januar 1991 an entscheidender Stelle beteiligt gewesen zu sein. Nachdem die österreichische Staatsanwaltschaft zunächst mitgeteilt hatte, das Auslieferungsverfahren nach Litauen könne bis zu einem Monat dauern (Meldung ORF), teilten die österreichischen Behörden bereits in der Nacht zum 16.Juli Litauen mit, der Verdächtigte sei wieder freigelassen worden (Pressemitteilung lit. Außenministerium).Die Anschuldigungen seien "zu vage" gewesen, so die österreichische Staatsanwaltschaft. Zumindest betreffen sie Ereignisse, deren öffentliche Darstellung für Litauen essentiell wichtig sind - auch als historische Grundlage des heutigen, demokratischen Litauen.

Die Situation von 1991 ist in sofern außergewöhnlich gewesen, da die meisten Staaten der Welt die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Litauens erst ein halbes Jahr nach den blutigen Januartagen 1991 in Vilnius anerkannt hatten. Das litauische Parlament (ehemaliger Oberste Sowjet), in dem die Unabhängigkeitsbewegung Sajudis seit dem 24.Februar 91 die Mehrheit hatte, erklärte am 11.März 1990 Litauen als ersten der damaligen Sowjetstaaten für unabhängig. Deutschland erkannte das unabhängige Litauen am 28.August 1991 an. 

Die überraschend schnelle Freilassung des festgenommenen Beschuldigten ruft nun scharfe Protestnoten auf litauischer Seite hervor. Außenminister Ažubalis: "Wir wissen, dass der Mann der Kommandant der Einheiten war, die 1991 den Fernsehturm gestürmt haben. Dabei sind vierzehn Menschen getötet und tausend verletzt worden, einige leiden heute noch." Auch die beiden Amtskollegen aus Estland und Lettland, Paet und Kristovskis, haben sich heute in Form eines gemeinsamen offenen Briefes mit Ažubalis solidarisiert. "Obwohl wir selbstverständlich die Unabhängigkeit der Gerichte akzeptieren", äußern darin die drei Minister, "so sind wir doch von der Geschwindigkeit überrascht, mit der die österreichischen Behörden Golowatow wieder freigelassen haben. Dies schwächt die Internationale Zusammenarbeit der Strafvollzugsbehörden, und offenbart auch wenig Anzeichen der Solidarität von EU-Staaten untereinander." Der derzeitige österreichische Geschäftsträger in Vilnius, Botschaftsrat Josef Sigmund, bekam ein Geschichtsbuch mit Schilderungen der Ereignisse des Januar 1991 aus litauischer Sicht überreicht (Botschafter Helmut Koller befindet sich derzeit auf Urlaub). Und die Wiener Zeitung zitiert die litauische Staatspräsidentin und Ex-EU-Kommissarin Dalia Grybauskaite mit der Aussage: "eine politisch nicht zu rechtfertigende Handlung, die die Rechtszusammenarbeit der EU-Mitgliederstaaten kompromittiert". Litauen berief seinen Botschafter in Österreich zu Konsultationen nach Vilnius, und die litauische Parlamentspräsidentin Irena Degutiene kündigte an, das Thema vor das Europaparlament bringen zu wollen. Dagegen sieht Österreichs Außenminister Spindelegger den diplomatischen Konflikt mit Litauen zumindest von juristischer Seite bereits als erledigt an, indem er behauptete, Litauen eine Frist zur Beibringung weiterer Fakten gesetzt zu haben, und diese Frist sei verstrichen. (der Standard). Einzelne Abgeordnete des österreichischen Nationalrats, wie der grüne Justizsprecher Albert Steinhauser, forderten Aufklärung über die Geschehnisse - was aber, wie sie selbst zugeben mussten, wegen der Sommerpause des Parlaments vor September nicht möglich sei. Die österreichische Handelskammer sieht den Konflikt offenbar ebenfalls kaufmännisch-gelassen. In "Die Presse" ist ein Zitat eines Wirtschaftsvertreters wiedergegeben, der meint: Österreich liefert kaum Konsumgüter nach Litauen, nichts was durch öffentliche Boykottaufrufe bedroht werden könnte. 

Wie hatte es noch Cornelius Hell, einer der bekanntesten Litauen-Kenner Österreichts, Literaturkritiker und Übersetzer aus dem Litauischen, Autor mehrerer Bücher über Litauen, anläßlich einer Festrede zum 40jährigen Bestehen der Partnerschaft Salzburg-Litauen gesagt? "Nicht vergessen sollte man auch, dass der sogenannte „Westen“ – ganz anders als in Ex-Jugoslawien – die Bestrebungen der drei baltischen Staaten, die völkerrechtswidrige sowjetische Okkupation zu beenden und ihre Staaten wiederherzustellen, gar nicht so gerne gesehen hat. Die österreichische Bundesregierung hat sich in einer sehr peinlichen Erklärung sogar mit den Putschisten im August 1991 arrangiert." 

Aus österreichischer Sicht wiederum ist die Ansicht nachzulesen, Litauen hätte in diesem Fall eben besser den EU-Gerichtshof in Den Haag anrufen sollen - ein EU-Haftbefehl sei für diese Art "Kriegsverbrechen" eben nicht geeignet (sondern eher für Schmuggel, Geldwäsche oder Urheberrechtsverletzungen). Und Golowatow habe auch noch in andere EU-Länder problemlos einreisen können - nur Österreich habe ihn zurückgeschickt. Andererseits gibt es auch Äußerungen, die von Litauen eine bessere Behandlung "ihrer russischen Mitbürger" einfordern - und das Land damit zumindest mit ihren nördlicheren Nachbarn verwechseln dürften. Als "Russenhasser" wollen sich offenbar weit weniger Österreicher identifiziert sehen denn als "Litauen-Hasser".
Die Diskussion ist ungewöhnlich heftig: Vladimiras Laucius, litauischer Politologe, äußert sich in litauischen Nachrichtenportalen und beim "Standard" - und erntet hunderte von Leserreaktionen auch in Österreich - darunter sind auch solche, die Litauen für "tendenziell korrupt" halten, und ein solches Land solle sich eben hüten Österreich Vorschriften machen zu wollen. Litauer protestieren ihrerseits gegen Österreich auf den Straßen von Vilnius - darunter die EU-Abgeordnete Radvile Morkunaite-Mikuleniene.

Vorläufig kann man sich nur in einem einig sein: allein schon der auffällig eilige Beschluß, den Beschuldigten lieber mal wieder frei zu lassen, hat der Freundschaft beider Länder eher einen "Bärendienst" geleistet.
Bedenklich auch, dass einige österreichische Medien offenbar selbst beim Versuch Schwierigkeiten haben, die Ereignisse von 1991 in Litauen zusammenzufassen. Hier ein Beispiel aus der "Kleinen Zeitung" vom 19.7., bezogen auf Golowatow: "Der 62-Jährige soll in den letzten Tagen der Sowjetherrschaft als Kommandant der Spezialeinheit Alpha am 13. Jänner 1991 den Angriff auf den Fernsehturm in Vilnius geleitet haben, der von Regimegegnern besetzt worden war. Beim Versuch, den Aufstand niederzuschlagen, wurden 14 Menschen getötet und 700 verletzt." - Von welchem "Aufstand" ist hier bitteschön die Rede? Wer regierte zu diesem Zeitpunkt das Land? Bitte nachlesen! (aber Vorsicht, auch bei Wikipedia klaffen bei diesem Thema Lücken ...)

Infos des litauischen Außenministeriums zur litauischen Reaktion auf die Freilassung Golowatows

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