20 Januar 2009

nun auch hier

Nun auch hier. So drücken es manche Litauer aus, die ähnlich wie die Letten einige Tage zuvor sich plötzlich mit zornigen, aber auch mit gewaltbereiten Menschen vor ihren Parlamentsgebäuden zu tun bekommen. Nun auch hier. Importiert mit westlicher Lebensart, zusammen mit den bunten Kaufhäusern, den Freizeit-Vergnügungsparks, sexuellen Freiheiten, und den Sportwagen auf Abzahlung? Oder ist es so eine "Mode", ähnlich der Pressekonferenz wo US-Präsident Bush mit einem Schuh beworfen wurde, und anschließend sowohl der tatsächliche Verkäufer genau dieser Schuhmarke reißende Nachfrage meldte, wie auch anderswo auf der Welt plötzlich phantasievolle Schuhaktionen gemeldet wurden?

Phantomschmerzen oder kultureller Bruch?
In Litauen werden in diesen Tagen vielen die Löhne gekürzt, die litauische Fluggesellschaft FlyLaL ist pleite (Pressemeldungen: "fast 30.000 Flugtickets mit Ziel Kulturhauptstadt Vilnius sind wertlos"), überall werden Stellen abgebaut und Leute entlassen, Steuern werden erhöht (statt sie "konsumfreundlich" zu senken), und die Preise drohen weiterhin nahe des zweistelligen Bereichs zu steigen. Nun auch bei uns - ach nein, alle diese schwierigen Lebenssituationen gibt es doch eigentlich schon ein paar Jahre lang! Nun auch bei uns.
Litauer wie Ruslanas Iržikevičius, der in Vilnius lebt und seine Gedanken in seinem "Lituanica"-Blog aufschreibt, der sich als zugehörig einer "Perestroika-Generation" fühlt die sich damals immer Freiheit und Demokratie gewünscht hat, Ruslanas bezeichnet die unruhigen Tage etwas despektierlich als "Egg riots" (Eier-Unruhen). Dennoch sagt auch er, es seien die "ernsthaftesten politischen Aktionen seit dem Wiedergewinn unserer Unabhängigkeit" gewesen. Er weist auch auf Rita Grumadaite hin, Pressesprecherin von Präsident Adamkus. Sie hatte die Unruhen vom 16.Januar mit den Worten kommentiert, die Regierung möge nochmals die Belastungen überprüfen, die im Zuge des neuesten "Krisenbekämpfungsplans" den Geschäftsleuten und allen Einwohnern auferlegt worden wären.

Wer eher sarkastische Töne bevorzugt, könnte auch sagen: nun, wir haben uns (als Außenstehende) immer schon gefragt, woher dieser ganze neue Reichtum kam (an bestimmten Orten, bei bestimmten Bevölkerungsschichten - eher in den Städten als auf dem Lande). Bei so relativ geringen Löhnen teure Autos fahren, Neubauwohnungen nicht nur mieten sondern kaufen, immer das neueste Spielzeug für die Kinder kaufen, und all die vielen neuen Kneipen, Diskos und Bars von Zeit zu Zeit frequentieren - wie konnten sich das Litauerinnen und Litauer leisten? Sind es nur Phantomschmerzen der zukünftig ausbleibender Konsumvergnügungen, die nun zum medienträchtigen Protest treiben?
Sicher, es gibt eine gewissen Schicht neureicher Jungunternehmer, die solchen Lebensstil führen könnten, und in gewissen politischen Kreisen ließen sich solche Eindrücke auch sammeln - charakteristisch für "Durchschnitts-Litauer" sind sie nicht.

Frust und Randale - wo bleiben die "Sänger" der Revolution?
Ein anderes Kennzeichen der öffentlichen Proteste in Litauen war es, dass Demonstrationen nicht nur in Vilnius stattfanden: auch in Klaipeda, Siauiliai, Kaunas, in anderen Städten (Fotos der Aktionen in Klaipeda z.B. auf www.balsas.lt). Aber wer demonstriert da?
Es sind litauische Stimmen zu hören, die sagen: "So etwas gab es bisher bei uns nicht." So etwas? Ach ja, erinnern wir uns: die Massenproteste gegen das Sowjetregime Ende der 1980er Jahre waren unglaublich gewaltlos (die "singende Revolution"). Friedlich, geduldig, ja oft sogar mehrere Gruppen verschiedener Meinung in wenigen Hundert Meter Abstand erduldeten die gegenseitige Existenz und hofften auf die eigene Überzeugungskraft der Ideen. Für einen Außenstehenden (Deutschen) wie mich mutete das damals unglaublich demokratisch (die "Grünen" würden sagen: "basisdemokratisch") an. Nun könnten wir diskutieren, ob die damaligen Aktionen mehr von den durch Gorbatschows nur teilweise absichtlich gemachten Schritten hin zu mehr selbständigem Denken, oder von dem damit verursachten politischen Vakuum ausgelöste waren, oder mehr durch die Umsetzung eigener Ideen und Arbeitsformen der "Sajudis"-Bewegung. Aber offenbar hat niemand dieser damaligen Protestgeneration es weitergeben können: vor dem Parlament, DER Institution der erkämpften Demokratie in Litauen, treffen sich heute eher Mutlose und Frustrierte.

Schon sind Stimmen zu hören, denen zufolge die Protestierenden sich ja angeblich aus "Besoffenen, Vorbestraften und reisenden Chaoten" zusammengesetzt hätten. (in Lettland, noch besorgniserregender, sind wieder Sprüche zu hören, man hätte auf den gewalttägigen Demos "ja nur Russisch gehört" - Schuldige suchen, statt aufzuarbeiten, auch ein viel beobachteter Reflex). Zudem wird gerne darauf verwiesen, die meisten Litauer hätten eben keine Zeit zu demonstrieren, die müssten sich "ihren eigenen Problemen" widmen, und sie würden sowieso von den Politikern nichts halten ("alles Leute, die sich nur selbst bereichern").
Bei solcher Sachlage muss doch die Sorge erlaubt sein, wo Litauen hinsteuert. Wie stabil ist die Demokratie? Wie ausgeprägt ist auch das Bewußtsein der übrigen europäischen Länder für das, was inzwischen gemeinsam erreicht wurde? Werden plus und minus nicht mehr nur den betroffenen Ländern zur gefälligen Lösung zugeschoben, sondern ist ein gemeinsames Verantwortungsgefühl vorhanden? Schön wäre, auch in einigen anderen Punkten, die demokratischen Aufbruch sichtbar machen würden, ebenfalls sagen zu können: nun auch hier.

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